Ungenaue Rechnung: “30.000 € monatlich für syrische Großfamilie?”

Autor: Andre Wolf

Bei dem Titel klingelten direkt die Archiv-Alarmglocken: da war doch mal was! Zumindest inhaltlich ist diese Schlagzeile nicht neu. Neu ist jedoch die Erscheinungsform dieser Schlagzeile, du auch als Print erschienen ist und und nun als Foto erneut hochgeladen wurde.

30.000 Euro monatlich für eine syrische Großfamilie. Diese These ist zum einen abgekupfert, zum anderen sind diese Zahlen ungenau. Das konnten wir bereits im Oktober 2016 darlegen [2]. Zu dieser Zeit erschien online ein Artikel auf der Webseite eines “Deutschen Arbeitgeber Verband e.V.” in dem die Zahl von 30.030 € (im Jahr 360.360 €) in den Raum geworfen, ohne darzustellen, wie sich diese Zahl zusammensetzt.

Diese Zahlen sind nun vermutlich in ein Printmedium gelangt, welches [edit] dank Lesermeldung als „Wetzlar-Kurier“ vom November 2016 identifiziert werden konnte (siehe Seite 4 unten):

MIMIKAMA

Entsprechend dieser Zahlen würden also diese 28 Personen jeweils über 1000 € monatlich bekommen, bzw. kosten. Wie diese Zahl nun zustande gekommen ist, das weiß niemand und wird auch nicht verdeutlicht. Das einzige, was definitiv nachvollziehbar ist, ist die Existenz der 28 Personen, welche zudem nicht einmal als eine Großfamilie, beziehungsweise Bedarfsgemeinschaft in Deutschland geführt ist.

Bekannte und nachweisbare Zahlen

Beginnen wir vorne: das Rechenbeispiel setzt voraus, dass die 28 Personen alle einen Status als anerkannte Flüchtlinge bekommen und mehr als 15 Monate in Deutschland wohnen. Das darf man machen, damit darf man dann auch zu höheren Zahlen greifen, die auf dem Niveau der Sozialhilfe zu finden sind.

Hier gibt es immer wieder die Angabe von ca. 392 €/Monat für alleinstehende, anerkannte Flüchtlinge. Diese Zahl variiert, je nach Quelle, um wenige Euro +/-. Dazu kommen noch die Wohnkosten, sofern anerkannte Flüchtlinge eine Wohnung anmieten. Die WELT berechnete in einem Artikel aus dem September 2015 [3]:

Je nach Wohnkosten kann die Unterstützung damit die Sätze anderer Länder, die entweder gar nicht oder nur einen pauschalen Zuschuss für die Unterkunft zahlen, übersteigen. Grob gerechnet heißt das: Mietet ein anerkannter Flüchtling in Deutschland etwa eine Wohnung für 400 Euro im Monat, liegt die Unterstützung unter dem Strich bei 791 Euro.

Auch der Bayerische Rundfunk beschreibt sehr ähnlich [1]:

Dazu bekommen Alleinstehende oder Alleinerziehende 404 Euro im Monat, Paare 364 Euro und Kinder je nach Alter entsprechend weniger. Außerdem haben anerkannte Flüchtlinge Anspruch auf eine Gesundheitskarte, können also ganz normal zum Arzt.

Transparente Basis schaffen

Es wird also unheimlich schwierig, die einzelnen Zahlungen so weit zu addieren, dass am Ende bei JEDER Person 1072,50 €/Monat herauskommen (30.030 €/Monat : 28 Personen). Wir wir aus dem Artikel der Rhein-Zeitung wissen, sind die Personen bisher an 3 verschiedenen Orten untergebracht, halten wir uns an die Spekulationen, so dürften nach dem Ablauf der 15 Monate 4 Wohnungen für die 28 Personen angemietet werden. Zudem gilt: die Kinder bekommen weniger als Erwachsene. Da sich der Satz für anerkannte  Flüchtlinge an dem Niveau der Sozialhilfe orientiert, kann man hier als Referenzmaterial die Beispielrechnung der Arbeitsagentur heranziehen [4]: hier wird einer Familie (Vater, Mutter, Kind 12 Jahre) im Beispiel ein Gesamtbedarf von 2007,98 € zugerechnet.

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(Quelle: Arbeitsagentur.de)

Das Kind hat dabei einen Anteil von 603,24, müsste in unserem Beispiel also pro Bedarfsgemeinschaft (wir haben am Ende wahrscheinlich 4 Bedarfsgemeinschaften) 6-fach gerechnet werden. Wir wären also nach den Beispielzahlen der Arbeitsagentur von Erwachsener=702,37€ und Kind=603,24€ bei 5024,18€ für die Bedarfsgemeinschaft MIT dem Vater (8 Personen). Damit ist dann alles abgedeckt, das ist der (rein rechnerische) Gesamtbedarf:

Der Gesamtbedarf setzt sich zusammen aus Ihren Bedarfen zur Sicherung des Lebensunterhalts und den anerkannten Bedarfen für Unterkunft und Heizung. Diesem Bedarf wird Ihr Einkommen gegenübergestellt.

Dazu müssen nun noch die anderen drei Bedarfsgemeinschaften gerechnet werden, die jedoch nicht alle aus 8 Personen bestehen, sondern 2 Mal aus 7 Personen (Mutter + 6 Kinder) und ein Mal aus 6 Personen (Mutter + 5 Kinder). Das wären – rein rechnerisch an den Beispielszahlen – 2 Mal 4321,81 € und ein Mal 3718,57 €. Hier kommen wir, wohl gemerkt rein rechnerisch auf Basis der Zahlen der Arbeitsagentur, auf monatlich 17386,37 € für 28 Personen in 4 Wohnungen.

Hinweis: dies ist ebenso eine Musterrechnung und verfügt über keinerlei Gültigkeit. Als Basis dienen die Zahlen aus der Veröffentlichung der Arbeitsagentur. Knapp 17.400 € weicht eklatant von den 30030 €/Monat ab, die in der Ursprungsrechnung angegeben wurde, bei denen man voraussetzt, dass diese für “Nichtstun” ausgezahlt wird. Es wäre eventuell hilfreich zu erfahren, wie diese Zahl zustande gekommen ist, da sie als Basis für das Rechenspiel fungiert.

Keine normale Bedarfsgemeinschaft

Um zudem nochmals auf die Realumstände zu kommen: die Rhein-Zeitung erörtert deutlich, dass es sich hierbei um keinen Normalzustand handelt. Behörden und Beteiligte sprechen ebenso davon, dass eine sogenannte Bedarfsgemeinschaft nach Sozialhilferecht diese Art von Familien nicht vorsieht. So heißt es in dem Artikel der Rhein-Zeitung:

Die Flüchtlinge wurden auf mehrere Kommunen verteilt. Der Mann musste sich entscheiden, mit welcher seiner Frauen er eine Bedarfsgemeinschaft bilden möchte, was innerfamiliäre Konflikte auslöste.

Hier gibt es Differenzen zwischen dem Artikel des “Deutscher Arbeitgeber Verband e.V.” und der Rhein-Zeitung: diese spricht deutlich von einem Modell, welches sehr schwierig sei, jedoch nicht als allgemeingültig zu sehen ist.

Aus der Tatsache, dass die Betreuung der Familie schwierig ist, macht Guido Göbel indes keinen Hehl. Er betont aber auch, dass ein derartig drastischer Fall die Ausnahme darstellt. Eine weitere Großfamilie mit vier Ehefrauen und mehr als 20 Kindern sei ihm zumindest im Westerwaldkreis nicht bekannt.

Ferner wird in dem Artikel der Rhein-Zeitung sehr deutlich, dass die Familie aufgrund ihrer eigenen konservativen Strukturen anfangs große Probleme bei der Betreuung hervorgerufen hat.

Verräterischer Bezug

Im zweiten Teil des Textes wird ein Rechenbeispiel von 20 deutschen Angestellten aufgestellt, die im Monat nicht diese Summe erwirtschaften würden. Dieses Beispiel isst ein wenig verräterisch und verweist nun auf den Impuls zu diesem Artikel: ist ist augenscheinlich der am 03.10. 2016 erschienene Artikel “4 Frauen, 23 Kinder” auf der Webseite des “Deutschen Arbeitgeber Verband e.V.” [5]. Denn genau hier wird diese Referenz aufgebaut:

Ich habe der Bewertung zum einen die Regelungen zur Sozialhilfe zu Grunde gelegt und zum anderen aus der Liste der 20 am niedrigsten bezahlten Berufe in Deutschland den Platz 20: Handwerker, als Vergleichsmaßstab herangezogen.

Viele Menschen fragen sich nun: wieso schreibt der “Deutsche Arbeitgeber Verband” diese Rechnung? Dabei ist uns aufgefallen: hier könnten “Begrifflichkeiten” den Leser irritieren (so wie anfangs uns auch), denn der Deutsche Arbeitgeber Verband e.V. war für uns in der Mitgliederliste der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände [6] nicht auffindbar. Das machte uns ein wenig stutzig, da es sich bei dem BDA um den großen Spitzenverband der gesamten deutschen Wirtschaft handelt, der die Interessen aller Branchen der privaten gewerblichen Wirtschaft in Deutschland vertritt. Auf eine Anfrage zur Mitgliedschaft im BDA bekamen wir die Mitteilung:

Sehr geehrter Herr Wolf,
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände unterhält keinerlei Beziehungen zum Deutschen Arbeitgeber Verband e. V.

Der Deutsche Arbeitgeber Verband e. V. ist insbesondere auch nicht unser Mitglied.
Mit freundlichen Grüßen

Insofern gilt Vorsicht, dass man nicht fälschlicherweise die Aufrechnung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Der Spitzenverband hat nichts mit dem Deutschen Arbeitgeber Verband e.V. zu tun.

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