Brennende Autos in der Silvesternacht: Lügen mit Bildern, Hetzen mit falschen Zahlen

Nicht nur die Gewalt gegen Einsatzkräfte und die Bilder ausgebrannter Autos erschrecken. Auch das, was danach geschehen ist: eine verheerende Nach-Silvester-Bilanz.

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Videos und Bilder vom Neujahrsmorgen 2023 zeigen ausgebrannte Autos in Berlin. Diese werden verwendet, um gegen „kriminelle Migranten“ zu hetzen. Große Boulevardmedien und Teile der deutschen Politik schlagen in dieselbe Kerbe: 2/3 der Tatverdächtigen sollen Migranten sein, der ÖRR würde „die Wahrheit“ verschweigen.

Unser Fazit

Die Bilder stammen aus der Knobelsdorffstrasse in Berlin Charlottenburg. Weit weg von den Brennpunktbezirken, an denen Einsatzkräfte in der Silvesternacht angegriffen wurden. Die Zahlen der Tatverdächtigen zeigen: der Großteil sind Deutsche. Listen von Vornamen dienen nicht der Problembewältigung, sondern einer weiteren Spaltung der Gesellschaft.

Silvesternacht in Berlin. Die Bilder haben ganz Deutschland schockiert: Ausschreitungen, Gewalt gegen Einsatzkräfte, brennende Fahrzeuge. Das hat es auch vor der Pandemie schon gegeben, das Ausmaß ist aber neu und lässt bei vielen die Alarmsirenen schrillen. Während Teile der Politik laut über weitgehende Böllerverbote nachdenken oder die bisherige Sozial- und Integrationspolitik überdenken möchten, machen es sich die üblichen Verdächtigen bei den Boulevardmedien und der (extremen) Rechten sehr einfach: Migranten sind die Sündenböcke. Und wer bei dieser Hetze nicht mitmacht, „verschweigt die Wahrheit“.

Die ausgebrannten Autos am Tag danach

Einige Bilder der Silvesternacht waren so eindringlich, dass sie wohl eine geraume Weile im kollektiven Gedächtnis hängen bleiben werden: Der Feuerwerkskörper, der am Hals eines Polizisten explodierte und ihn schwer verletzte. Der Feuerlöscher, der auf die Windschutzscheibe eines Krankenwagen geworfen wurde. Der Blick aus dem Feuerwehrauto, der zeigt, wie es mit Raketen beschossen wird. Der ausgebrannte Bus und das angekokelte Wohnhaus darüber.

Eine weitere Szene, die verdeutlichen soll, wie es am nächsten Morgen in Berlin aussah, zeigt eine Reihe ausgebrannter Autos. Der genaue Ort wird dabei nicht erwähnt. Nur eines ist klar, es handelt sich weder um Kabul, Syrien noch die Ukraine, sondern: „Das ist Berlin an Neujahr 2023“.

Silvester in Berlin: Ausgebrannte Autos in der Knobelsdorffstraße
Dieser Screenshot und das zugehörige Video werden vielfach geteilt.

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Kriegsrhetorik auf Twitter
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Eines hat uns bei der Durchsicht der Fotos und des Videos der Szene allerdings stutzig gemacht: Im Vordergrund sieht man die sechs ausgebrannten Autos. Die Umgebung, der Hintergrund, ist allerdings seltsam aufgeräumt. Familien mit kleinen Kindern sehen sich verwundert an, was da Kurioses auf der Straße steht. Etwas Arbeit für die Analyse der Videobilder (mehr hatten wir zu Beginn nicht) und ein Abgleich mit den oft sehr knappen Beschreibungen der Polizeieinsätze dieser Nacht führten uns auf eine Spur: Diese Straße gehört nicht zu einem der Berliner Bezirke, die so gerne als soziale Brennpunkte beschrieben werden. Das ist das eher wohlhabende Pflaster von Berlin, Charlottenburg und wir sehen hier die Knobelsdorffstraße.

Ebenfalls gegen 0.30 Uhr brannte in der Knobelsdorffstraße in Charlottenburg ein geparktes Auto. Aufgrund des starkes Windes griffen die Flammen auf weitere Wagen über, so dass schließlich sechs Fahrzeuge, ein Krad und vier Fahrräder zum Teil erheblich beschädigt wurden. Einsatzkräfte der Feuerwehr löschten den Brand.

Auszug aus der Pressemeldung der Polizei Berlin (sic)

Das liest sich etwas anders, als die ähnliche Meldungen dieser Nacht. Kein Wort von Tatverdächtigen, die die Autos in Brand gesteckt hatten. Keine Personengruppen, die bewusst eine Konfrontation mit Einsatzkräften suchten. Schließlich finden wir sogar ein Video auf Twitter, das die nächtlichen Löscharbeiten in der Knobelsdorffstraße zeigt. Auch hier keine Spur von Randale, keine zugemüllten Straßen. Nur Einsatzkräfte, die versuchen, den Schaden an den Fahrzeugen so gering wie möglich zu halten:

Wie sind diese Fahrzeuge in Brand geraten? Nur eines hatte zunächst gebrannt. Am viel größeren Schaden war der Wind hauptursächlich beteiligt. War es beim ersten Brandstiftung? War es eine verirrte Rakete? Oder ein dumm-fahrlässig platzierter Knallkörper? Wir (und die Polizei Berlin) wissen es zum aktuellen Zeitpunkt nicht. Kriegsrhetorik und „kriminelle Migranten“ als Sündenböcke sind an eben diesem Schauplatz aber ganz eindeutig fehl am Platz!

Ethnischer Hintergrund der Tatverdächtigen und falsche Zahlen

Wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen „die Wahrheit“ über die Silvesternacht „verschwiegen“? Zumindest die größte Boulevardzeitung des Landes ist dieser Ansicht. Das Problem, sie verwendet für ihre Behauptungen falsche Zahlen, die inzwischen revidiert und präzisiert wurden. Ein Polizeisprecher hatte noch am Abend des 3. Jänner verkündet, von den insgesamt festgenommen 145 Personen in Berlin hätten 45 die deutsche Staatsbürgerschaft. Dabei hatten viele Medien des ÖRR zunächst auch genau diesen Spin mit verbreitet: Es seien überwiegend Migranten gewesen.

Der Tagesspiegel zitiert eine „neue Randalestatistik“ der Berliner Polizei, die inzwischen unterscheidet, wofür die 145 Personen festgenommen wurden. Darunter eben auch Delikte, die nicht direkt mit den Attacken auf Einsatzkräfte oder Sachbeschädigung zusammenhängen wie z.B. Landfriedensbruch. Nach dieser Statistik „waren die meisten festgenommenen Täter nach reinen Böllerattacken auf Polizisten und Feuerwehrleute deutsche Staatsbürger und unter 21 Jahre alt“. Von den 38 Personen, die deswegen in Gewahrsam genommen wurden, waren 2/3 Deutsche.

Aber auch diese Zahlen müssen noch weiter runtergebrochen werden. Der Tagesspiegel schreibt, „lediglich das Alter gibt einen Hinweis auf mögliche Hintergründe“, ohne weiter ins Detail zu gehen. „Teilweise wurde Einsatzkräfte von Minderjährigen mit Böllern aus Schreckschusswaffen angegriffen.“ Unter den Personen, die die Einsatzkräfte angegriffen haben, vermuten Einsatzkräfte welche mit und solche ohne Migrationshintergrund. Die Mobs von Vermummten, die verstärkt die Feuerwehr behindert und angriffen haben, sollen letzteres gewesen sein.

Manche fragen, ob die Personen, mit deutschem Pass, denn wirklich „Deutsche“ wären. Die Vornamen der Tatverdächtigen sollen hierbei bei der Einschätzung helfen. Dieser neue Spin wird zum Glück oft genug als das erkannt, was er ist:

Um es nochmals kurz zusammenzufassen:

Das Migrationsthema ist dabei ein gefundenes Fressen. Mit schnellen Schlüssen wähnt man sich in manchen Kreisen schon auf der richtigen Seite: Silvester zeige wieder einmal, dass Deutschland ein „Ausländerproblem“ habe – und dass die öffentlich-rechtlichen Medien die Augen davor verschließen. Es sind zwei Fliegen mit einer Klappe: Aber eben auf billige und zudem auch noch faktisch falsche Art und Weise. Ein dilettantischer Trugschluss oder eben eine mutwillige Verdrehung der Tatsachen. Man weiß nicht, was schlimmer ist.

Kommentar von Steven Sowa

Fazit: Die Silvester-Krawalle in Berlin waren schlimm. Die Bilder der ausgebrannten Autos in der Knobelsdorffstraße stehen damit allerdings nicht im unmittelbaren Zusammenhang. Auch die aktuellen Zahlen der Berliner Polizei entsprechen nicht (mehr) dem, was so manche rechten Politiker und Boulevardmedien sich gerne zusammenreimen: einfache Antworten mit jungen Migranten als Sündenböcken. Berlin wird sich gut überlegen müssen, was es für Konsequenzen aus den Vorfällen zieht. Rassistische Schnellschüsse sind dabei allerdings wenig hilfreich.

Mimikama-Bewertung: IRREFÜHREND

Übrigens gab es Silvester auch Randale und Zerstörung durch Rechtsextreme: „Etwa 200 Personen wüteten an Silvester auf dem Bornaer Marktplatz in Sachsen. Anwohner berichten von ‚Sieg Heil‘-Rufen und Männern mit Skimasken“, schreibt t-online.de.


Quellen: Polizei Berlin, ARD, BZ Berlin, Tagesspiegel, Twitter, Bild, t-online.de

Weiterer Faktencheck: Angriff auf Rettungswagen: Was zeigt dieses Video?

Hinweis: Dieser Inhalt gibt den Stand der Dinge wieder, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aktuell
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