Harry Potter und das selbst reparierende Hochhaus in Kyiv

Oder besser: Wladimir Putin und die sich von selbst verbreitende Propaganda. Die Fotos: keine Zauberei, sondern ein Wunder.

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Mit dem Kommentar „Harry Potter und das sich selbst reparierende Hochhaus“ wird unterstellt, dass die Fotos eines teilzerstörten und wiederhergestellten Wohnhauses in Kyiv gefälscht wären.

Unser Fazit

Die Fotos sind echt. Nicht durch Zauberhand, sondern durch die entschlossenen Bewohner startete die Sanierung schon im Frühling. Als die Stadt im Sommer übernahm, ging der Rest dann zügig vonstatten. Jetzt, ein Jahr nach dem Raketeneinschlag, sieht das Hochhaus wieder aus wie davor.

Kennt ihr schon den Film „Harry Potter und das sich selbst reparierende Hochhaus“? Wir auch nicht. Prorussische Accounts verwenden aktuell eine Gegenüberstellung von zwei Fotos, um zu beweisen, dass der Ukrainekrieg fake sei oder zumindest die Bilder der Zerstörung ukrainische Propaganda. Ein Wohngebäude, das sich innerhalb eines Jahres von selbst repariert? Das klingt unglaublich:

Was wirklich unglaublich ist: mit welchen billigen Tricks hier gearbeitet wird.

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Das Hochhaus: Bilder der Zerstörung

Der Raketeneinschlag vom 26. Februar 2022 auf das Wohngebäude in der Лобановського, 6-А (Lobanovskyi Ave) in Kyiv, Ukraine und die resultierende Zerstörung ist gut dokumentiert. Laut Verteidigungsministerium wurden beim russischen Raketenangriff zwei Personen getötet und vier weitere verletzt. 80 Menschen wurden evakuiert, nach dem die Stockwerke 16 bis 20 stark beschädigt und sechs Wohnungen komplett zerstört wurden. Dieses BBC-Video zeigt den Einschlag, das Loch in der Fassade und Einsatzkräfte am Hochhaus:

Ende Februar 2022 wurden mehrere Städte in der Ukraine mit Raketen beschossen, dabei starben über 200 Menschen. In eine Erklärung von Russlands Innenministerium hieß es, dass nur militärische Ziele ins Visier genommen wurden, die in der Offensive verwendeten „Präzisionswaffen mit großer Reichweite“ würden „Schäden an der Wohn- und sozialen Infrastruktur“ ausschließen.

Ich betone noch einmal, dass der Beschuss nur auf die Objekte der militärischen Infrastruktur der Streitkräfte der Ukraine gerichtet ist und keine Schäden an der Wohn- und sozialen Infrastruktur verursacht.

ABC zitiert den Generalmajor Igor Konaschenkow

Das Gebäude in der Lobanovskyi Ave steht nicht sehr weit vom Zhuliany Flughafen im Südwesten der ukrainischen Hauptstadt. Damit ist es zumindest vorstellbar, dass das Wohngebäude nicht das eigentliche Ziel der russischen Rakete war. Ein Reporter der Los Angeles Times sah sich die Zerstörung von innen an:

Die Sanierungsarbeiten des Gebäudes

Die Seite The Village hat dokumentiert, was in den Monaten nach dem Angriff geschah: Auch wenn es städtische und staatliche Fonds für den Wiederaufbau gibt, haben die Bewohner des Gebäudes beschlossen, auf eigene Kosten damit zu beginnen. Sie sammelten 1,5 Millionen Griwna (etwa 38.000 Euro), die sie für die Beseitigung von Trümmern und die Verstärkung der zerstörten Böden ausgaben, um einen weiteren Einsturz zu verhindern. The Village sprach mit Bewohnern über ihr Leben im beschädigten Gebäude und die laufenden Sanierungsarbeiten:

Unsere Wohnung befindet sich im 13. Stock, auf der anderen Seite des Raketeneinschlags. Daher haben wir kaum Unannehmlichkeiten. Es gibt ein wenig Lärm, aber es ist vergleichbar damit, wie einer der Nachbarn irgendwo von Ihnen entfernt Reparaturen durchführt. Manchmal spüren wir eine Vibration, wenn die Platten geschnitten werden.

Kristina Swereva zu The Village

Bewohner und Eigentümer von den Wohnungen schlossen sich Anfang April zusammen. Ein Bewohner ist Ingenieur, ein Eigentümer Bauunternehmer. Ein Chat wurde für die Kommunikation und für das Spendensammeln eingerichtet. Das Entfernen der Trümmer dauerte etwa einen Monat. Reste von Wänden, Decken, Möbeln und allem, was zerstört wurde, musste entfernt werden. Als Nächstes sollten Befestigungselemente installiert werden, um die zerstörten Böden zu stabilisieren. Dafür holten sie den Statiker ins Boot, der ihr Hochhaus ursprünglich entworfen hatte.

Stützelemente im zerstörten Hochhaus
Die Stützelemente. Quelle: The Village

An diesem Punkt mischte sich die Stadtverwaltung ein. Sie schickte Anfang Mai eine Kommission vorbei. Diese erklärte, dass zur Restaurierung des Gebäudes alle Stockwerke über dem Einschlag abgetragen werden müssen. Der Leiter dieser Behörde, Mykola Povoroznyk sprach Anfang Juni über ihre Pläne mit dem Sender Espreso TV: 11 Gebäude seien im Rahmen der Raketenangriffe in Kyiv stark beschädigt worden, die Untersuchungen und Planungen wären nun abgeschlossen. Aktuell werde gerade die Baustelle aufgebaut.

Laut Povoroznyk würden die Arbeiten nicht einfach sein, weil in großer Höhe gearbeitet und dabei Betonbrocken kleingeschnitten werden müssen. Die Arbeiten würden wohl eine längere Zeit dauern, die wichtigsten Arbeiten sollten aber bis Mitte Herbst abgeschlossen sein, bevor die nächste Heizperiode losgeht. Die Bewohner gingen allerdings davon aus, dass sie wohl zu Beginn noch mit Klimaanlagen heizen müssen, die Zentralheizung soll ab November wieder in Betrieb sein.

Die Sanierung schreitet voran

Und wirklich, im November ist die Fassade geflickt und neue Fenster wurden eingesetzt. Alles sieht noch ein bisschen roh aus, aber wieder wie ein vollständiges Gebäude. Der Sender НовиниLIVE besuchte die Baustelle und sprach mit der Bewohnerin Olena Chumakova. Im Sommer hatte der Umbau richtig Fahrt aufgenommen, in nur zweieinhalb Monaten war grobe Teil erledigt. Die Sanierung wird jetzt komplett von der Stadt finanziert, die Kosten dafür werden etwa 50 Millionen Griwna (etwa 1,3 Millionen Euro) betragen.

Wir haben den ganzen Sommer über auf der Baustelle gelebt, aber niemand hat sich beschwert. […] Wir wollten es noch vor dem kalten Wetter warm haben und endlich ins Leben zurückkehren. Das geschah, auch wenn wir nicht daran glaubten. Aber uns wurde versprochen, das Haus vor dem kalten Wetter in dem Zustand zu übergeben, in dem es sich nach den Bauarbeiten befand, und das ist auch eingetreten. Die Aufzüge funktionieren, und auch die Kommunikation und die Heizung sind in Betrieb. Der Strom war sofort verfügbar. Wir sollten also nicht aufgeben, sondern Hoffnung und Glauben haben.

Olena Chumakova zu НовиниLIVE
Das Gebäude Lobanovskyi Ave 6A im November 2022

Das Hochhaus im Februar 2023

Jetzt, ein Jahr danach, sind die Arbeiten komplett abgeschlossen, wie НовиниLIVE neuerlich berichtet. Zu diesem Anlass veröffentlichte auch Stadtrat Dmytro Bilotserkovets auf seiner Facebookseite den Vergleich: nach dem Raketeneinschlag und jetzt. Er schreibt dazu: „Kyiv. Erholung – Ukrainer sind entschlossen und schnell!“ Es sind genau diese Bilder, die für die prorussische Propaganda und Anzweiflung der Fakten missbraucht wurden.

Київ. Відновлення – українці рішучі та швидкі!

Gepostet von Dmitriy Belotserkovets am Mittwoch, 8. Februar 2023

Fazit: Das Gebäude in Kyiv, das durch den Einschlag einer russischen Rakete im Februar 2022 teilweise zerstört wurde, hat sich natürlich nicht wie durch Zauberhand von selbst repariert. Und das Bild des sanierten Gebäudes ist auch nicht gefälscht. Die entschlossenen Bewohner haben die Reparatur zunächst selbst begonnen, bis die Stadt übernahm und in Rekordzeit den ursprünglichen Zustand wiederhergestellt hat.

Mimikama-Bewertung: IRREFÜHREND

Quellen: BBC, ABC, LA Times, The Village, Espreso TV, НовиниLIVE, Dmytro Bilotserkovets (Facebook), Twitter

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