Algospeak: Sprichst Du heimlich TikTok-Code?

Während die Algorithmen der sozialen Netzwerke immer empfindlicher auf unerwünschte Begriffe reagieren, werden die Nutzer immer kreativer darin, die automatisierte Moderation zu umgehen.

Autor: Susanne Breuer

Freiheit des Internets? Von wegen! Die Betreiber der sozialen Netzwerke investieren viele Ressourcen, Inhalte auf ihren Plattformen nach „schädlichem“ Content zu durchforsten, diesen zu löschen oder zumindest in der Reichweite zu drosseln. Aber das Internet wäre nicht das Internet, wenn die kreativen Nutzer nicht Mittel, Wege und Wörter finden würden, solche automatisierten Eingriffe der Algorithmen zu umgehen: Sie sprechen einfach Algospeak!

Was ist Algospeak?

Da die Pandemie immer mehr Menschen dazu veranlasste, online zu kommunizieren und sich in der digitalen Welt auszudrücken, haben algorithmische Systeme zur Inhaltsmoderation einen beispiellosen Einfluss auf die von uns gewählten Wörter und haben zu einer, neuen Form der internetgesteuerten äsopischen Sprache geführt. Der Begriff geht auf den griechischen Philosophen Äsop zurück und bezeichnet eine Form der Kommunikation, die Außenstehenden eine unschuldige Bedeutung vermittelt, jedoch informierten Mitgliedern z.B. einer Verschwörung oder Untergrundbewegung eine verborgene Bedeutung verleiht.

Der Begriff Algospeak ist ein Kofferwort aus den Wörtern bzw. Wortbestandteilen Algo für „Algorithmus“ und „Speak“, dem englischen Begriff für sprechen. Damit werden Begriffe oder Ausdrucksweisen bezeichnet, die Social Media-Nutzer anstelle der üblichen Ausdrucksweisen verwenden, um eine Maßnahme durch die automatisiert entscheidenden Algorithmen der Content-Moderations-Systeme bzw. Plattformen wie TikTok, Facebook etc. zu vermeiden. So werden Begriffe umformuliert, Buchstaben durch Zahlen ersetzt, Silben vertauscht oder ersatzweise Emojis verwendet.

Kleines Ratespiel gefällig? Was ist gemeint?

Seggs ist nur sehr indirekt eine sächsische Eierspeise, sondern vielmehr ein Gattungs-, wenn nicht gar ein sehr allgemeiner Begattungsbegriff. D1ck kann, aber muss nichts mit fett zu tun haben, hängt aber eng mit unserem ersten Suchbegriff zusammen. Und gleichgeschlechtliche weibliche Liebe lässt sich diskret, bzw. sanktionsfrei als le$bian oder gar als le Dollar bean bezeichnen. Eine würzige Aubergine aka spicy eggplant ist dann auch kein veganes Rezept, sondern steht für ein pulsierendes Seggsspielzeug, dass alleine oder im Zusammenspiel mit dem langjährigen Mascara, also Partner, eingesetzt wird.

Es geht natürlich auch um Begriffe, die nichts mit dem körperlich-zwischenmenschlichen zu tun haben, sondern gesellschaftliche Themen aufgreifen, die in den Kommentarsträngen oft polarisieren. Die Corona-Pandemie wurde vielfach mit Panda-Express oder Panini codiert, als die Plattformen bereits im Ansatz heftige Diskussionen zu Pandemie-Themen vermeiden wollten. Wir verstehen uns? Prima, Kumpel Algo bislang nämlich nicht.

Ernster Hintergrund

Sieht lustig aus, hat aber einen ernsten Hintergrund. In Zeiten, wo die Reichweite eines Accounts unabhängig von der Plattform die wichtigste Währung ist, wo die Anzahl der Follower über den „Erfolg“ eines Nutzers entscheidet, wo virale Videos Lebenswege entscheidend prägen können, auch und insbesondere monetär, aber auch politische Systeme Meinungen unterdrücken oder steuern wollen, haben die Algorithmen der sozialen Netzwerke eine unglaubliche Macht.

Welche Inhalte werden wie groß ausgespielt? Gefallen die Inhalte der künstlichen Intelligenz oder enthalten sie Begriffe, die vom automatisierten Moderationssystem teils ohne Ansehen des Kontextes abgestraft werden? Bei gleichzeitiger Imperfektion des Maschinenhirns. Jeder kennt die Problematik, dass vermeintlich völlig harmlose Inhalte bestraft werden, gleichzeitig andere aber, die für jedes humane Gehirn eindeutig unzulässig sind, fröhlich über die Netzwerke viral verbreitet werden können.

Das ist absolut nicht immer logisch und nachvollziehbar. Manchmal amüsant, oft aber auch demokratieschädigend. Werden beispielsweise geflüchtete Menschen als „Goldstücke“ bezeichnet, dann vermag der Algorithmus die sehr negative, fremdenfeindliche, teils rassistische Konnotation in diesem eigentlich so freundlich klingenden Ausdruck sehr oft nicht zu erkennen

Durch Algospeak bekommt diese Problematik nochmals eine neue Wendung, denn hier glauben Nutzer kritische Begriffe erkannt zu haben und verändern ihr Wording so, dass sie von anderen Nutzern verstanden werden, der Algorithmus aber im Dunkeln tappt, bzw. noch nicht einmal misstrauisch wird. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um Inhalte handelt, die zu Recht oder zu Unrecht auf den Plattformen unterwegs sind. Denn die Frage der Wertung, ob Inhalte zulässig sind oder nicht, ist ja noch einmal eine ganz andere und von vielen

Faktoren abhängig. Denken wir an menschenrechtsrelevante Themen, bekommt codierte Sprache eine ganz neue Relevanz, um eine sanktionsfreie gesellschaftliche Diskussion auf breiter Ebene zu ermöglichen, die Veränderung anstoßen kann.

Alle Plattformen betroffen?

Algospeak betrifft grundsätzlich alle Plattformen. Überall finden wir abgewandelte oder codierte Begriffe, die klar der Umgehung der Algorithmen dienen. Besonders betroffen ist allerdings TikTok. Dies liegt schlicht am Algorithmus, der anders funktioniert als auf anderen stärker Follower-zentrierter Plattformen, sondern die Relevanz eines Beitrages bewertet, z.B. anhand der Beliebtheit bei anderen Nutzern, und selbst entscheidet, an welche und wieviele Nutzer er ausgespielt wird. Das können dann auch Nutzer sein, die mit dem Content-Ersteller bislang noch gar nichts zu tun hatten.

TikTok besonders betroffen

Es ist eben diese Chance auf virale Erfolge, die auch Nutzer mit nur wenigen Followern haben, die TikTok so von anderer Plattformen unterscheidet und so beliebt macht. Je populärer die Inhalte eines Nutzers sind, desto größer ist die mögliche Reichweite in der Zukunft. Mit allen Konsequenzen, positiv wie negativ, die das Influencer-Dasein so mit sich bringt.

Im Gegensatz zu anderen Mainstream-Social-Media-Plattformen werden Inhalte auf TikTok hauptsächlich über eine algorithmisch kuratierte „For You“-Seite verbreitet; Follower zu haben garantiert eben nicht, dass die eigene kleine Community die Inhalte des Nutzers auf jeden Fall sieht. Diese Verschiebung hat dazu geführt, dass durchschnittliche Benutzer ihre Videos in erster Linie auf den Algorithmus und nicht auf eine Anhängerschaft abstimmen, was bedeutet, dass die Einhaltung der Regeln zur Inhaltsmoderation wichtiger denn je ist.

Kleinste Verstöße können zu massiven Reichweiteneinschränkungen, Löschungen oder gar Sperren führen. Andersherum, ein Video, dass den Geschmack der TikTok-Community trifft und komplett konform mit den Regeln ist, hat gute Chancen, viral zu gehen. Ein Video, das aber vielleicht völlig berechtigte, gesellschaftliche Missstände aufgreift und auch verbal artikuliert, bekommt oft gar nicht erst die Chance, gesehen zu werden. Wenn denn der Nutzer den algorithmischen Filter nicht mit Algospeak auskontern kann.

Der Shadow-Ban-Hammer

Wenn der allmächtige Algorithmus unzufrieden ist mit den Inhalten der Nutzer, da sie mit „kritischen“ Begriffen zu polarisierenden Themen wie Politik oder Sexualität gepostet haben, strafen die Apps immer häufiger mit „Shadow bans“ ab oder löschen die inkriminierten Inhalte direkt. Der Shadow Ban ist dabei besonders perfide, da der gepostete Inhalt nur noch für den Ersteller sichtbar ist, nicht aber für die angestrebte Zielgruppe. Es erfolgt in der Regel aber auch keine offizielle Information über die Sanktion. Aufmerksame und mit den Funktionalitäten der jeweiligen Plattform vertraute Nutzer bemerken jedoch, dass ihre Reichweite im Sinkflug ist oder ihr Account bei ihren Followern nicht mehr im Newsfeed erscheint.

Weltweite Problematik

Algospeak ist ein globales Phänomen. Für Deutschland haben Recherchen der Tagesschau, NDR und WDR im letzten Jahr gezeigt, dass auf TikTok Worte blockiert werden, die im historischen und im modernen gesellschaftlichen Kontext Deutschlands eine enorme Relevanz haben. So konnte gezeigt werden, dass Kommentare, die Begriffe wie „homosexuell“, „LGBT“, „Auschwitz“ und „Nationalsozialismus“ enthalten, anderen Nutzern teilweise nicht angezeigt und ergo scheinbar blockiert wurden.

Nix wirklich Neues

Und wer glaubt, dass codierte Sprache zur Vermeidung von Sanktionen ein Internet-Phänomen ist, der irrt. Die Anpassung der Sprache zur Vermeidung von Überprüfungen geht dem Internet lange voraus. Viele Religionen haben es vermieden, den Namen des Teufels auszusprechen, damit sie ihn nicht rufen, während Menschen, die in repressiven Regimen leben, Codewörter entwickelten, um Tabuthemen zu diskutieren. Und auch in der jüngeren Literatur gibt es ein weltweit bekanntes Beispiel des Code-Sprechs: Da war doch dieser Mann, also Der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf….! Und wir alle sehen sofort das dunkle Mal am Himmel! Mit dem Gesicht von VOLDEMORT!

Quelle:

Washington Post
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