Berechtigen Artikel der UN-Charta Russland zum Angriff auf die Ukraine?

Aktuell verbreitet sich, voranging via Telegram und Facebook, die Information, dass Russland laut der UN-Charta das Recht habe, „Nazis überall zu bestrafen“ und damit den Krieg in der Ukraine legitimieren könne. Was steht wirklich in der UN-Charta?

Autor: Mimikama

Die Behauptung

Artikel 106 und 107 der UN-Charta berechtigen Russland zum Angriff auf die Ukraine, da die Artikel den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (darunter Russland) erlauben, gewisse Maßnahmen zu ergreifen. Das funktioniert ohne Zustimmung der anderen „Siegerländer“, eine Benachrichtigung Letzterer reicht aus.

Unser Fazit

Falsch! Neben der Tatsache, dass beide Artikel mittlerweile veraltet und damit nicht mehr relevant für die Charta sind, erlaubt die UN Waffengewalt nur zur Verteidigung oder nach einer Zustimmung des Sicherheitsrates. Deshalb befähigt keiner der beiden Artikel, Russland zum Angriffskrieg in der Ukraine.

Hintergrundinformation: Der UN-Sicherheitsrat

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden 1945 die Vereinten Nationen. 50 Staaten unterzeichneten einen Gründungsvertrag – die UN-Charta – und versicherten damit, sich an diesen zu halten.

Der Sicherheitsrat der UN hat fünf ständige Mitglieder mit Vetorecht: Frankreich, Russland, Großbritannien, die USA und China. Es gibt zehn weitere nichtständige Mitglieder, das heißt, dass ein Land nie allein über etwas entscheiden kann. Die Länder im Sicherheitsrat stellen nach Artikel 39 der UN-Charta fest, „ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen aufgrund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.“

Der Bezug auf Artikel 41 und 42 in diesem Zitat, lässt sich darauf zurückführen, dass diese beiden Artikel Ansätze dafür liefern, wie im Fall einer Bedrohung des Friedens vorzugehen ist. Dabei geht es in Artikel 41 vor allem um diplomatische Ansätze und Sanktionen, die einem Land auferlegt werden können, wie etwa die „vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, […] und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen“.

Erst wenn dies ohne Erfolg bleibt, werden militärische Ansätze in Betracht gezogen (Art. 42). Ohne Zustimmung der UN darf ein Land ausschließlich dann Waffengewalt anwenden, wenn es sich gegen einen Angriff verteidigen muss (Artikel 51).

Diverse Beiträge zur UN-Charta auf Facebook und Telegram

In der Behauptung auf Facebook oder Telegram heißt es, dass Artikel 106 und 107 der UN-Charta Russland als Rechtsnachfolger des Zweiten Weltkrieges das Recht geben „alle Maßnahmen, auch militärische, (…) zu ergreifen (…), für Versuche den Nationalsozialismus wiederzubeleben.“ Darüber hinaus stünde wortwörtlich im Gründungsvertrag: „Russland hat das Recht Nazis überall zu bestrafen.“

MIMIKAMA
Screenshot des Facebook-Beitrags
MIMIKAMA
Screenshot des Telegram-Beitrags

Was ist der Inhalt von Artikel 106?

Beide in den Behauptungen verwendeten Artikel stammen aus der Gründungszeit der UN. Deshalb besagt Artikel 106, dass die „Parteien dieser Erklärung“ sich miteinander in Verbindung setzen sollen, falls konkrete Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens ergriffen werden müssen. Diese Regelung solle so lange gelten, bis der Sicherheitsrat seine Arbeit nach Artikel 42 ausüben könne.

Die „Parteien dieser Erklärung“ werden in dem Beitrag auf Telegram falsch interpretiert. Der Verfasser geht anscheinend davon aus, dass „die drei Gewinnländer“ (des Zweiten Weltkrieges) gemeint seien. Des Weiteren bedeutet der Inhalt des Artikels 106 definitiv nicht, dass Russland im Falle eines Angriffs auf ein anderes Land (nur) diese Gewinnländer benachrichtigen muss, denn der Sicherheitsrat übt seine Pflichten ohnehin schon längst aus.

Weitere Informationen zum Artikel 106 lieferte Patrick Rosenow von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) gegenüber Correctiv. Er erklärt, „dass die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (P5) ihre besondere Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wahrzunehmen haben“. Eigentlich sollten dem Sicherheitsrat Streitkräfte der Länder zur Seite gestellt werden. „Dazu ist es aber nie gekommen, da kein Staat bereit war, Teile seiner nationalen Streitkräfte einem internationalen Gremium bedingungslos zur Verfügung zu stellen.“

Deshalb sollte der Artikel eine praktische Übergangsregelung sein, die mittlerweile eigentlich keine Relevanz mehr hat, denn entweder beschließt der Sicherheitsrat als Ganzes friedenserhaltende Maßnahmen oder nicht (etwa bei einem Veto mindestens eines der P5). Deswegen gab es immer wieder Vorschläge, den Artikel zu streichen. Dies ist allerdings ein langwieriger Prozess, weshalb es bis jetzt nicht dazu gekommen sei, so Rosenow. Dasselbe gilt auch für den Artikel 107.

Auch Artikel 107 hat inzwischen keine Relevanz mehr

Die sogenannte Feindstaatenklausel ist Begriff von Art. 107. Dabei geht es um Maßnahmen, die gegen die Feindstaaten der Unterzeichner in Folge des Zweiten Weltkrieges getroffen werden sollen. Diese würden durch die Charta weder außer Kraft gesetzt, noch untersagt.

Interessant ist, dass es heute gar keine Feindstaaten mehr gibt, denn jeder Staat, der im Laufe des Krieges als Feindstaat erachtet wurde (darunter v.a. Deutschland und das japanische Kaiserreich), hat inzwischen selbst die UN-Charta unterzeichnet und ist damit Mitglied geworden. Infolgedessen wurde bereits im Jahr 1995 vorgeschlagen, auch den Artikel 107 außer Kraft zu setzen. Dass er keine Relevanz mehr hat, bestätigt auch Patrick Rosenow.

Beide Artikel, auf die im Post auf Telegram Bezug genommen wird, haben also eine völlig andere Bedeutung, als im Netz dargestellt wird. Ohnehin lässt sich die Feindstaatenklausel nicht auf die Ukraine anwenden. Sie ist nämlich nicht als Feindstaat, sondern im Gegenteil als einer der Gründungsstaaten der UN und Teil der Sowjetunion zu betrachten.

UN verurteilt Putins Angriffskrieg

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, das wichtigste Organ zur Rechtsprechung der Vereinten Nationen, hat schon im März 2022 gefordert, dass Russland die rechtswidrige Intervention in der Ukraine sofort beenden solle. Auch beeinflusst der Krieg in der Ukraine die Situation innerhalb der UN. So wurde seitens der Generalversammlung im April dafür gestimmt, Russland aus dem Menschenrechtsrat der UN zu werfen. „Das ist eindeutig“, so auch Rosenow.

Fazit:
Die Behauptungen auf Telegram sind falsch. Keiner der beiden Artikel legitimiert den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Die Charta der UN erlaubt Waffengewalt nur im Falle der Verteidigung oder wenn der Sicherheitsrat zustimmt. Außerdem beinhalten Artikel 106 und 107 einen völlig anderen Inhalt als behauptet und sind, dadurch, dass sie schon zur Gründungszeit der UN verfasst wurden, mittlerweile ohnehin nicht mehr relevant.

Quellen

Gründungsvertrag – die UN-Charta
Feindstaatenklausel ist Begriff von Art. 107
Vorschlag der UN-Generalverammlung zur Streichung von Artikel 107 (1995)
Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zu Artikel 107 (2017)
Correctiv
dpa
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Autor: Nick L.

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