Schock: Die Flüssigkeit in Antigen-Tests soll giftig sein. Die dazugehörigen Laborbefunde zeigen angeblich die Giftigkeit der Corona-Tests. Verschiedene Websites, vornehmlich aus dem sogenannten „alternativen Medienspektrum“, aber auch diverse Videos auf YouTube (wo sonst) verweisen darauf. Dabei werden Begriffe wie „Genozid“ (Völkermord), aber auch ängstigende Aussagen wie „immuntoxikologische als auch genotoxische Schäden“ geäußert.

Ob nun die Corona-Tests quasi toxische „Massenvernichtungswaffen sind, haben wir bereits in unserem Faktencheck mit dem Titel „Covid-19-Antigen-Tests enthalten giftige Flüssigkeit?“ beschrieben. Fazit: Die Pufferlösung wurde von anderen Behörden im Europäischen Wirtschaftsraum getestet und als unbedenklich evaluiert.

Doch in dieser gesamten Diskussion um vermeintlich giftige Corona-Tests dürfte es weniger um Fakten gehen als vielmehr um Befindlichkeiten und um eigene Überzeugungen. Am Ende steht sogar im Raum, warum die Geschichte mit den vergifteten Corona-Tests überhaupt so erfolgreich ist, und welche Motive dahinterstehen. Auf genau diese sinnstiftenden Motive und Erzählungen gehen wir im folgenden Text ein.

Sinnstiftende Erzählungen

Im Zusammenhang mit sinnstiftenden Erzählungen fällt häufig auch der Begriff des Narratives. Bei sinnstiftenden Erzählungen handelt es sich um Geschichten oder tradierte Erzählungen, die plausibel klingen. Man hat sie immer schon irgendwo gehört. Sie bedienen sich bekannten Motiven, sie überliefern Inhalte, von denen wir bereits überzeugt sind und die unsere eigene Position manifestieren

Es gibt verschiedene sinnstiftende Erzählungen. Diese passen sich immer wieder der gegenwärtigen Realität an, tragen jedoch teilweise Jahrhunderte alte Erzählkerne. Wir haben in diesem Umfang bereits die Ritualmordlegende aus dem Mittelalter beleuchtet, welche in der aktuellen Gegenwart sich als die sogenannte Adrenochromelegende zeigt (siehe hier). Auch diese Legende hat sich immer wieder dynamisch gezeigt und sich an die Realität angepasst, ist im Kern jedoch immer gleichgeblieben.

Durch diese jeweils gegenwärtige Adaption wirkt der Erzählkern plausibel. Mit dabei in dieser Überlieferung sind auch immer jeweils alle Feindbilder, was so eine Geschichte immer wieder gefährlich macht. Speziell Verschwörungstheorien, die bereits im Mittelalter zu Pogromen geführt haben, sollten daher in ihren aktuellen Adaptionen immer mit Vorsicht genossen werden. So wie auch die Adrenochromelegende, da die ursprüngliche Ritualmordlegende stark judenfeindlich war.

Die Brunnenvergiftung

Neben der Ritualmordlegende gibt es auch die Legende der Brunnenvergiftung. Diese Legende war ebenso eine Verschwörungstheorie im Mittelalter, die zu Judenverfolgungen führte. Grob nacherzählt: Im Mittelalter wurden Juden verantwortlich für die Pest gemacht. Das geschah, indem behauptet wurde, dass Juden die Brunnen vergiftet hätten und so die Pest entstanden wäre. Das Resultat war natürlich Pogrome.

Diese Geschichte bietet recht viele spannende Motive. Einerseits haben wir typische Mechanismen vorliegen. Ein Mechanismus liegt darin, dass komplexe Zusammenhänge hier auf einen verfälscht einfachen Punkt gebracht werden. Natürlich hatte die Pest nichts mit vergifteten Brunnen zu tun, aber die Erklärung wirkte einfach und vor allem plausibel. Der zweite Mechanismus liegt in der Errichtung eines Feindbildes. Feindbilder spielen innerhalb von Verschwörungstheorien eine essenzielle Rolle, da Wut, Ängste und Sorgen auf Feindbilder projiziert und auch kanalisiert werden können. Mit Abschaffung oder Attacke auf die Feindbilder kann gemäß Gedankenstrang das Problem gelöst werden.

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Auch die Legende der Brunnenvergiftung hat die Jahrhunderte überlebt und wurde immer wieder an die Realität angepasst oder hier und da angewendet. Selbst in der nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit tauchten Brunnenvergiftungsgeschichten immer wieder auf, ohne dass diese als solche wahrgenommen wurden. Das Problem liegt jedoch darin, dass diese Geschichten plausibel wirken, gerade weil die sinnstiftende Geschichte dahinter und ihr Erzählkern über die Jahrhunderte immer wieder transportiert wurden.

Und der Erzählkern ist immer gleich: Wir Menschen können uns bei alltäglichen Verhaltensweisen über eine Flüssigkeit oder einen Kontakt mit einer Substanz, mit einer schweren Krankheit infizieren oder einem anderen todbringenden Ereignis ausgesetzt werden. Schuld sind dabei immer andere Menschen, zumeist stigmatisierte, kleinere Gruppen aus einer Gesellschaft, die sich nur schwer gegenüber dem Vorwurf wehren können. Oder aber der Erzählkern driftet in den Bereich der Verschwörungstheorien und vermutet (teilweise nicht weiter definierte) Eliten hinter der Geschichte, die einen umfassenden Plan verfolgen.

Problematisch wird es auch, wenn diese Gruppen nicht genau definiert werden und Raum für Spekulationen gegeben ist. Dann wiederum werden häufig klassische Feindbilder angewendet, die für eine Situation verantwortlich gemacht werden.

Von HIV-Nadeln bis zu Corona-Tests

Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf moderne Adaptionen, schauen wir als erstes auf die Geschichte der „HIV-infizierten Nadel“. Auf den ersten Blick wirkt die urbane Legende der HIV infizierten Nadeln recht harmlos, sofern die inhaltliche Warnung nicht weiter betrachtet wird. Es ist eine Legende, die immer wieder so oder ähnlich adaptiert auftaucht:

Dies hat sich in einem Kino in (Stadt XY) ereignet.
Vor einigen Wochen hat sich in einem Kino eine Person auf etwas Spitziges gesetzt, das sich auf einem der Sitze befand. Als Sie sich wieder aufgerichtet hat, um zu sehen, um was es sich handelte, da hat sie eine Nadel gefunden, die in den Sitz gestochen war mit einer befestigten Notiz: „Sie wurden soeben durch das HIV infiziert“.
Das Kontrollzentrum der Krankheiten berichtet über mehrere ähnliche Ereignisse kürzlich vorgekommen in mehreren anderen Städten. Alle getesteten Nadeln SIND HIV positiv. […]

Wir reden hier von einer dynamischen Falschmeldung. Dynamisch aus zwei Gründen: einerseits kann der Ortsname so einer Meldung ausgetauscht werden, und so die Geschichte an dem genannten Ort von neuem erzählt werden. Menschen fühlen sich durch die Ortsnennung betroffen und teilen diese Falschmeldung weiter. Die zweite Dynamik liegt in der Anpassbarkeit. Diese Geschichte hat sich bei identischem Erzählkern sehr wandelbar gezeigt. Es müssen also nicht zwingend Kinosessel sein, die im Zusammenhang mit einer HIV-Infizierten Nadel stehen, sondern es können auch andere Alltagsgegenstände sein Punkt hier ein Beispiel einer Adaption: HIV-infizierte Nadeln in Zapfpistolen!

Über vergiftete Corona-Tests und vergiftete Brunnen

Hier wird recht deutlich, dass es sich um ein und dieselbe Geschichte handelt. Es wurde lediglich aus dem Kinosessel die Zapfpistole. Alles andere ist komplett gleichgeblieben. Und überall diesem steht am Ende die Legende der Brunnenvergiftung. Die Idee, dass Menschen mit infizierten Stoffen in Verbindung kommen und selbst dadurch krank werden.

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Brunnenvergiftungen in der Coronapandemie

Während der Coronapandemie spielte die verklausulierte Brunnenvergiftung ebenfalls stets eine große Rolle gespielt. Hier werden sogar die Parallelen zur Pest mehr als offensichtlich deutlich! Es geht erneut um eine komplexe gesundheitliche Situation, die auf einfache Erklärungen heruntergebrochen wird.

Die Metapher der Brunnenvergiftung haben wir bereits bei den Impfungen beobachten können. Über die Impfungen gegen das Coronavirus wurden allerlei Geschichten erzählt. So sollen Menschen massenweise sterben, wenn sie sich impfen lassen. Oder sie würden mit einer bestimmten Krankheit infiziert werden. Oder gar am Ende am AIDS erkranken (vergleiche)! Teilweise wurden halbwegs konkrete Daten veröffentlicht, an denen geimpfte Menschen hätten sterben sollen (Beispiel: im Herbst).

All diese vielen Falschmeldungen spielten stets mit der sinnstiftenden Erzählung der Brunnenvergiftung. Auch wenn der Brunnen hier eine Impfspritze war im übertragenen Sinne. Wir erkennen also recht eindeutig die Parallelen.

Und nun werfen wir den Blick auf den seit wenigen Tagen erhobenen Vorwurf, dass die Corona-Tests vergiftet sind. Wir haben tatsächlich eine neue Variante der Brunnenvergiftung vorliegen. Sämtliche Komponenten der klassischen Brunnenvergiftung sind in dieser neuen Form der Veröffentlichung enthalten. Wir haben einen Gegenstand, mit denen viele Menschen im Alltag in Berührung kommen (Corona-Test). Wir haben ein Feindbild, dass hier in Form von Regierungen aufgebaut wird. Und wir haben zusätzlich noch eine Komponente in der Erzählung, die hoch emotionalisiert, nämlich die Nennung von Kindern!

Auf der einen Seite ist zwar einfach erkennbar, dass die Corona-Tests, welche täglich und tausendfach angewendet werden, noch niemanden in den Tod getrieben haben. Doch das spielt grundsätzlich keine Rolle, da die sinnstiftende Geschichte der Brunnenvergiftung auf der Metaebene angewendet wird, um ein Feindbild angreifen zu können. Gleichzeitig geht es auch um die Legitimation der eigenen Überzeugungen. Letzten Endes haben wir auch noch einen Hauch der Verschwörungstheorie in dem Vorwurf, da es politische Eliten sein sollen, die einen Genozid planen.

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Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hat die Nennung von Kindern in der Geschichte. Kinder sind das höchste Gut. Sie sind nicht nur das höchste Gut, sondern verkörpern auch reine und unschuldige Wesen. Dem gegenüber stehen die bösen Eliten, die Kindern etwas Schlimmes antun wollen. Wenn ich also einen Menschen entmenschlichen und angreifbar machen möchte, werfe ich dieser Person das Schlimmste vor, was sie tun kann: Kinder missbrauchen oder gar töten bzw. deren Tötung und Missbrauch in Kauf nehmen.

Gleichzeitig wird mithilfe dieses Motivs innerhalb der Erzählung ein kontrastreiches Bild geschaffen. Bist du nicht für die Kinder, so bist du gegen die Kinder. Genau mit diesem Mechanismus wird eine Diskussion radikalisiert. Es gibt nur Freund oder Feind. Und dann niemand die Tötung oder den Missbrauch von Kindern befürwortet, ist die Verortung des Feindes recht einfach.

Vergiftete Corona-Tests sind ein Katalysator

Im Grunde geht es gar nicht um die Corona-Tests diese sind lediglich ein Katalysator und Platzhalter. Im Hintergrund dieser Geschichten stehen jeweils politische oder gesellschaftliche Überzeugungen. Die klassischen sinnstiftenden Erzählungen, obgleich es Ritualmordlegende oder Brunnenvergiftung ist, werden lediglich als Stilmittel innerhalb einer durchaus aggressiven Diskussion angewendet. Mit welchem neuen und an die jeweilige Gegenwart angepasste Gewand diese Erzählung betrieben wird, ist daher unwesentlich und lässt sich lediglich aus der Situation heraus erkennen.

Diese Diskussionen sind auch nicht evidenzbasiert, sondern es geht um Überzeugungen, um anekdotische Erzählungen und um eigene Befindlichkeiten. Aber es geht auch um Ängste und Sorgen, die mithilfe radikaler Erzählungen kanalisiert werden können. Daher ist es grundsätzlich immer von Wichtigkeit, Erzählungen zu erkennen, bewerten zu können, warum sie erzählt werden, wie sie wirken und auch die Intentionen dahinter auszumachen. Bestimmte sinnstiftende Erzählungen tauchen schlichtweg anlassbezogen regelmäßig auf und beinhalten immer die gleichen Mechanismen. Gefährlich werden sie grundsätzlich dann, wenn es die Geschichten radikalisieren und auf verschiedenen Ebenen Feindbilder transportieren oder zeichnen.

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