• ARD, ZDF und Deutschlandradio produzieren mehr als 270 journalistische Formate in sozialen Netzwerken
  • Deutliche Orientierung an den Konventionen der Plattformen erkennbar
  • Formatentwicklung, Darstellungsweisen und Inhalte werden von Plattformlogik beeinflusst
  • Abhängigkeit von algorithmischen Funktionen gegeben, starkes Machtgefälle zwischen Konzernen und Sendern identifiziert
  • Ausbau nicht-kommerzieller Plattformen und Regulierung ‚privater‘ Algorithmen zum Erhalt von Qualität und Unabhängigkeit notwendig

Soziale Netzwerke sind für die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland unverzichtbar geworden

Soziale Netzwerke sind für die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland unverzichtbar geworden, um alle Teile der Bevölkerung journalistisch zu erreichen und mit Informationen zu versorgen. Das gibt der gesellschaftliche und inzwischen auch der gesetzliche Auftrag den Sendern vor. Im Bestreben, auf den privaten Plattformen hohe Reichweiten journalistischer Angebote zu erzielen, orientieren sich ARD und ZDF auch an den algorithmischen Funktionsweisen der Netzwerke – und gefährden dadurch potenziell die Qualität ihrer Arbeit und stellen ihre Unabhängigkeit infrage.

Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der Otto Brenner Stiftung über „Journalismus in sozialen Netzwerken“, die heute veröffentlicht wird. Der Journalist und Medienwissenschaftler Henning Eichler hat dafür alle Formate der öffentlich-rechtlichen Anbieter in Deutschland erfasst, die für die privaten Plattformen optimierter Journalismus sind. Zusätzlich führte Eichler Interviews mit 18 Personen aus den verantwortlichen Redaktionen und dem Management der Sender zur Frage, ob sich „ARD und ZDF im Bann der Algorithmen“ – so der Untertitel der Arbeit – befinden.

„Die Ergebnisse zeigen, dass das Dilemma der befragten Journalist:innen, tagtäglich zwischen Plattform-Logik und journalistischen Qualitätsansprüchen abwägen zu müssen, sehr präsent ist“, so Henning Eichler. Die meisten Befragten hätten eine hohe Identifikation mit den Werten der öffentlich-rechtlichen Sender und sähen durchaus die Gefahr, diese für Reichweiten und Klicks zu vernachlässigen. „Nichtsdestotrotz sind die verschiedenen Kennzahlen der Plattformen fester Bestandteil des Redaktionsalltages, werden durchgängig als ihre ‚Währungen‘ akzeptiert und für redaktions- und senderinterne Evaluationen übernommen“, bilanziert der Autor, der jüngst zum Thema „journalistische Innovationen in der ARD“ promovierte.

Manche Themen werden in bestimmten Netzwerken nicht mehr umgesetzt

Seine OBS-Studie kann zeigen, dass sowohl die Form und die Darstellung der journalistischen Angebote als auch die Auswahl von Themen – und damit die Inhalte – durch die Konventionen und Algorithmen der Plattformen beeinflusst werden. So kommt es vor, dass manche Themen in bestimmten Netzwerken nicht mehr umgesetzt werden, weil sie in der Vergangenheit dort keine erfolgreichen Kennzahlen erzielten. Auch orientieren sich die Inhalte in Tonalität, Ästhetik und Präsentation an reichweitenstarken Angeboten, die zudem aus dem nicht-journalistischen Bereich stammen können.

„Die Beziehung zwischen den öffentlich-rechtlichen Medien und den Plattformen ist von einem starken Machtgefälle zugunsten der Konzerne geprägt“, beschreibt Eichler eine weitere Problemlage. Das zeige sich in der Abhängigkeit von algorithmischen Funktionen bei unangekündigten Änderungen ebendieser Algorithmen, in der Content-Moderation der Plattformen und beim Löschen von Inhalten durch KI-gesteuerte Filter – aber auch in unzuverlässiger Kommunikation und mangelnder Transparenz vonseiten der Konzerne. Insbesondere letzteres macht für Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung, deutlich, „wer in dieser Beziehung Koch und wer Kellner ist“. Der Weg aus dem Dilemma müsse „mehrgleisig“ sein, so Legrand weiter: „Der Ausbau unabhängiger und nicht-kommerzieller Plattformen ist ein wesentlicher Bestandteil. Hier ist von der Weiterentwicklung der öffentlich-rechtlichen Mediatheken bis zur Unterstützung bestehender zivilgesellschaftlicher und dezentraler Netzwerkstrukturen, wie dem sogenannte Fediverse, noch Vieles möglich.“ Klar sei aber auch, dass die kommerziellen Netzwerke zumindest auf absehbare Zeit unverzichtbar bleiben.

Das sieht auch Medienwissenschaftler Eichler so. Er empfiehlt den Öffentlich-Rechtlichen schnelle, konkrete Schritte.

„Vor allem bei redaktionellen Mitarbeitern ist das Bedürfnis nach orientierenden Grundsätzen für ihre Arbeit in den sozialen Netzwerken klar zutage getreten, hier sollte mit einer öffentlich-rechtlichen Digitalethik Klarheit geschaffen werden.“ ARD und ZDF müssten ihre Interessen dem Experten zufolge aber auch viel stärker in die Regulierungsvorhaben der Politik gegenüber den Datenkonzernen einfließen lassen. Der vor der Verabschiedung stehende europäische Digital Services Act könnte ein Ansatzpunkt sein. Langfristig sollte jedoch auch über weitergehende Maßnahmen nachgedacht werden – beispielsweise eine gesetzlich vorgeschriebene, aber staatsfern kontrollierte „algorithmische Sonderstellung von Qualitätsjournalismus“, wie es in der Studie heißt.

Informationen zur neuen OBS-Studie: www.otto-brenner-stiftung.de/ARD-ZDF-Soziale-Medien

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