Hat ein Tagesschau-Korrespondent wirklich Twitter-User mit Ratten verglichen?

Seit Elon Musk Twitter übernommen hat, wird viel darüber gesprochen, was sich beim Mikrobloggingdienst zum Thema Redefreiheit und Zensur ändern wird.

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Ein Korrespondent der Tagesschau will nicht näher bestimmte Nutzer des Nachrichtendienstes Twitter als „verschwörerische Ratten“ „in ihre Löcher zurück geprügelt“ sehen.

Unser Fazit

Ja, in einem Kommentar auf tagesschau.de wurde wirklich über „rassistische oder verschwörerisches Ratten“ geschrieben, die „aus ihren Löchern kriechen dürfen“. Twitter würde aber nur dann relevant bleiben, wenn diese Ratten „in ihre Löcher zurück geprügelt werden“.
Der Artikel existiert noch, die Passage wurde inzwischen abgeändert. Die Tagesschau hat sich auf ihrer Website und auf Twitter für die Wortwahl entschuldigt.

Social Media und viele klassische Medien empören sich über die Wortwahl eines Kommentars, der auf tagesschau.de erschienen ist. Der Korrespondent Nils Dampz des ARD-Studio Los Angeles spricht in Sieben Tage der Zerstörung [aktuelle und ursprüngliche Version] über das Chaos der Übernahme von Twitter durch den exzentrischen Milliardär Elon Musk:

Schlimmer hätte die erste Woche nach der Übernahme für Twitter kaum laufen können. Und doch – es könnte noch wesentlich schlimmer kommen. Das zu verhindern, liege letztlich auch bei den Nutzern selbst.

Einleitung des Kommentares von Nils Dampz

Dampz sorgt sich darum, was es bedeuten könnte, dass zukünftig Verifizierte Accounts – das sind die mit den blauen Häkchen – käuflich zu erwerben sind. Den so „könnte es noch schwerer werden zu unterscheiden, was eine glaubwürdige Information ist und was nicht“. Musks „Marktplatz der Debatte“ würde es ermöglichen, dass auch „rassistische oder verschwörerisches Ratten aus ihren Löchern kriechen dürfen“. Twitter könnte aber nur relevant bleiben [für Journalisten, für den schnellen Informationsaustausch], „wenn genau diese Ratten – um im Marktplatzbild zu bleiben – in ihre Löcher zurück geprügelt werden“.

Kritik und Entschuldigung durch die Tagesschau

Die Wortwahl wurde zu Recht sehr stark kritisiert. Aber auch rechte Seiten und Kommentatoren schlachten den Vorfall aus: Redefreiheit hätte nur das linke Meinungsdiktat, man spricht von „Wehrt den Anfängen!“ bei „kleinen Göbbelchen“, vergleicht die ARD-Tagesschau mit dem Schwarzen Kanal des DDR-Fernsehens.

Der Text existiert immer noch, aber nun in einer abgeänderten Version. Auf Twitter und auch beim Text hat sich die Tagesschau für die ursprüngliche Formulierung entschuldigt:

Marktplatz der Debatte

Was ist der Marktplatz der Debatte, von dem Elon Musk da spricht? Der CEO von Tesla und SpaceX hat sich selbst wiederholt als „Verfechter der freien Meinungsäußerung“ bezeichnet und „übermäßige Moderation“ auf Online-Plattformen kritisiert. In seiner Erklärung anlässlich des Kaufs von Twitter sagte er, dass „die freie Meinungsäußerung das Fundament einer funktionierenden Demokratie ist, und Twitter ist der digitale Marktplatz, auf dem Angelegenheiten, die für die Zukunft der Menschheit wichtig sind, debattiert werden“.

Soziale Netzwerke sollten seiner Ansicht nach keine Kommentare entfernen, die zwar beleidigend, aber dennoch legal sind. „Wenn es eine Grauzone ist, lasst den Tweet existieren“, wird er hier zum Thema zitiert. Allerdings verbietet Twitter derzeit Belästigung, Missbrauch und Beiträge, die jemandem körperlichen Schaden zufügen wollen. Die Plattform hat noch weitere Richtlinien, wie z. B. ein Verbot von Fehlinformationen im Zusammenhang mit COVID-19.

Musks Vorstoß bereitet allerdings auch Sorgen: Gelockerte Twitter-Regeln könnten einen Freibrief für jene bedeuten, die gerne belästigen, trollen oder die Plattform missbrauchen, um Menschen anzugreifen. Fehlinformationen bis hin zu Lügen können so verbreitet werden, die Wahlen, Gesundheit und öffentliche Sicherheit betreffen. Die Befürchtung, dass Donald „You are fake news“ Trump noch vor den Midterms zu Twitter zurückkehren könnte, sind zumindest aus der Welt.

Marktplatz der Ideen

Nochmals zurück zum Konzept des Marktplatzes. Bereits der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill sprach 1859 in „On Liberty“ über einen „Marktplatz der Ideen“, in dem er Redefreiheit analog zum wirtschaftlichen Konzept des freien Marktes versteht. „Wahrheit“ kristallisiere sich ganz von selbst aus Wettbewerb der Ideen in einem freien, transparenten öffentlichen Diskurs heraus. Das Konzept von Mill ist deshalb so wichtig, weil es zu einem Grundpfeiler des Verständnisses von Redefreiheit im First Amendment der US-amerikanischen Verfassung wurde.

Der Marktplatz der Ideen ist auch heute noch eine häufig verwendete Metapher, die oft zitiert wird. Wenn man Google anstrengt und nach „marketplace of ideas“ und „rats“ sucht, dann stechen zwei Arten von Ergebnissen heraus: Erstens, nicht nur Menschen verhalten sich im ökonomischen Sinne rational, sondern sogar Ratten:

Rationale Entscheidungen müssen keine bewussten Entscheidungen sein. Ratten sind mindestens so rational wie Menschen, wenn man Rationalität als das Erreichen der eigenen Ziele (Überleben und Fortpflanzung, im Falle der Ratten) zu den geringsten Kosten definiert.

Und es gibt Grenzen der Redefreiheit, nämlich dann, wenn Menschen mit zu vernichtendem Ungeziefer (wie Kakerlaken oder Ratten) verglichen werden:

Die einzige Option, mit der wir uns hier befassen, ist (4), da nichts anderes unter die Gesetzgebung zu Hassreden fallen würde. Daher unterteilt Waldron (4) in vier neue Aussagen, die jeweils ein Beispiel dafür geben, wie X die in (4) beschriebene Missbilligung ausdrücken könnte:
(4a) X drückt seine Ablehnung des allgemeinen abstrakten Grundsatzes aus, dass Regierungen allen Mitgliedern der Gemeinschaft die gleiche Aufmerksamkeit und den gleichen Respekt entgegenbringen müssen.
(4b) X legt eine Rassentheorie dar, die seiner Meinung nach die Minderwertigkeit bestimmter Linien menschlicher Abstammung nach bestimmten Maßstäben belegt.
(4c) X vertritt die Ansicht, dass die Bürger, die durch das Antidiskriminierungsgesetz geschützt werden sollen, nicht besser sind als Tiere.
(4d) X druckt in einem Flugblatt oder sagt im Radio, dass diese Bürger nicht besser sind als die Art von Tieren, die man normalerweise auszurotten versucht (wie Ratten oder Kakerlaken).

Und wenn ich jetzt entsprechend der Fundstücke philosophieren darf, fällt mir folgendes auf: Nils Dampz hat es irgendwie geschafft, den Spagat zwischen beiden Dingen vorzuturnen:

  1. Leute verhalten sich oft (un)bewusst so, dass ihr Handeln dem Erreichen der eigenen Ziele dient, ohne dabei ausreichend die Bedürfnisse der anderen zu berücksichtigen. Und das kann auf einem freien „Markt der Ideen“ toxisch sein.
  2. Dampz selbst hat die Grenzen massiv überschritten, in dem er jene gleichzeitig als Ratten entmenschlicht und als legitime Ziele zum „Zurückprügeln in Löcher“ markiert, die die freie Meinungsäußerung auf Twitter schamlos für Rassismus und Hetze ausnutzen könnten

FAZIT

Ja, der Gastautor Nils Dampz, LA-Korrespondent der Tagesschau hat von „verschwörerische Ratten“ und „in ihre Löcher zurück geprügelt“ auf tagesschau.de geschrieben. Es ging bei seiner mehr als unglücklichen und zu Recht kritisierten Formulierung darum, dass es auf Twitter unter dem neuen Chef Musk wieder erlaubt sein könnte, Meinungsfreiheit als Hassrede-Freiheit zu interpretieren. Die Tagesschau hat sich auf Twitter und auch beim Text für die ursprüngliche Formulierung entschuldigt.


Mehr zum Thema: Elon Musk verprellt immer mehr Twitter-User
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