Analyse zu “VATIKAN IM SCHOCK: 1500 Jahre alte Bibel in Türkei gefunden”

Autor: Andre Wolf

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Gleich mehrere Dinge gibt es zu dieser Schlagzeile eines Blogs zu sagen, um die Aussage in das richtige Licht zu stellen.

Es geht hier um einen Bibelfund, welcher nach Aussage der türkischen Regierung ein 1500 Jahre altes Schriftstück sein soll und das angeblich nie gefundene “Barnabasevangelium” sein soll. Diese Meldung einer Blogseite verunsichert nun die Leser in sozialen Netzwerken und erhitzt auch unnötigerweise die aktuelle Diskussion zum Thema Islamisierung, in dessen Kontext die Geschichte erneut in Umlauf gebracht wird. Die Meldung der Seite spricht von “muslimischen Lügen” und “schockiertem Vatikan”. Schaut man sich den Blogartikel genauer an, so sieht man, dass er vom 07/05/2014 stammt – die über 100 teils feindlichen Kommentare jedoch erst aus der Zeit nach dem 19.12.2014 stammen. Das zeigt deutlich, wie stark dieser Artikel im aktuellen politischen Kontext instrumentalisiert wird.

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Warum sollte der Vatikan schockiert sein?

Soll es den Vatikan schockieren, dass es ein Barnabasevangelium geben könnte? Barnabas war, laut Apostelgeschichte des Neuen Testaments, ein Apostel und Zeitgenosse des Paulus und gleichzeitig ein Mitglied der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem. Kurz und grob widergegeben: die nicht unumstrittene Überlieferung des Barnabasevangeliums beschreibt  keinen Kreuztod Jesu, sowie daraus resultierend auch keine Auferstehung und Alleinstellung Jesu als Gottes Sohn. Bei dem Barnabasevangelium handelt es sich um einen Text, der nicht in den biblischen Kanon (Inhalt) aufgenommen wurde, also eine apokryphe Schrift.  Es gibt eine Vielzahl von Apokryphen und sie sind nicht im biblischen Kanon, weil sie inhaltlich entweder nicht passten, nicht gefielen, nicht bekannt genug waren oder – schlicht und einfach – zur Zeit der Kanonisierung nicht existierten. Die formale Kanonisierung der Bibel, so wie wir sie in etwa heute vorliegen haben, fand im 4. Jahrhundert n.Chr. statt. Seit dieser Zeit gab es immer wieder kleine Veränderungen, jedoch große Umbrüche, wie etwa das Hinzufügen oder Entfernen eines Evangeliums, sind nicht geschehen oder vorgesehen.



Die Überlieferungsgeschichte der Barnabasevangeliums besagt nun, dass Barnabas als früher Zeitgenosse das Evangelium selbst verfasst haben soll. Historiker, Theologen und Gelehrte verschiedener Konfessionen bestreiten diese Legende jedoch und datieren die Entstehung des Evangeliums auf das 14. – 16. Jahrhundert n.Chr.. Somit wäre auch klar, warum es nicht in den Kanon gehört: es hat zur Zeit der Kanonisierung nicht existiert.

Natürlich ist es den Theologen der verschiedenen Konfessionen völlig bewusst, dass es mehr Überlieferungen gibt, als im biblischen Kanon widergegeben werden. So ist zum Beispiel die “Logienquelle Q” für wissenschaftliche neutestamentliche Theologie ein fester Bestandteil der Arbeit, auch wenn niemand diese Logienquelle heutzutage zu Gesicht bekommen hat und sie ein reines Konstrukt ist.
Umgekehrt bestreiten Theologen auch nicht die redaktionelle Bearbeitung von alttestamentarischen Büchern im Laufe der Jahrhunderte. So geht man ganz klar davon aus, das zum Beispiel das Buch Jesaja von mehr als drei Autoren verfasst wurde und sich in der Entstehung über mehrere Jahrhunderte streckte.

Warum sollte also der Vatikan schockiert sein, wenn eine überlieferte Handschrift gefunden wird?

Eine 1500 Jahre alte Bibel?

Handelt es sich nun hier um eine 1500 Jahre alte Handschrift (das Wort Bibel ist hier völlig fehl am Platz), die tatsächlich das Barnabasevangelium ist? Dies lässt sich schnell negieren, denn allein die ersten optischen Merkmale machen skeptisch:

Another modern fake, I’m afraid – hence the gold ink, and the uncured skins.
(Eine andere moderne Fälschung , fürchte ich – daher der Goldtinte , und die nicht ausgehärtete Haut.)

Quelle: http://timothymichaellaw.com

Dazu kommt noch ein mehr als unüblicher Schreibstil für die ersten Jahrhunderte: die Punktation (Nikud) des Textes.

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Aramäische und hebräische Schriftzeichen enthielten ursprünglich keine Punkte, so wie sie auf dem Bild zu sehen sind. Diese Punkte, welche den Vokalen unserer Sprache entsprechen, wurden erst später hinzugefügt. Da man seine Sprache “kannte”, brauchte man Vokale nicht schreiben. Ernst Würthwein, ein bedeutender Alttestamentler und Professor für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg († 1996) war der Ansicht,  die Punktationen entstanden erst 650-750 n. Chr., weil der babylonische Talmud von ca. 600 n. Chr. noch ohne Punktierung war.

Was dort nun zu lesen ist, ist ein Teil aus dem Matthäusevangelium, und zwar ein Stück aus dem Tauf- und Missionsbefehl (Mt. 28;19 und 20). Das widerspricht nun der eingangs gegebenen Darstellung des Barnabasevangeliums.

Zum Schluss bleibt noch anzuführen: die genannte Jahreszahl 1500 bezieht sich nicht auf das Alter der Handschrift, sondern auf die Entstehung.

ܒܫܢܬܐ ܐܠܦܐ ܘܚܡܫܡܐ ܕܡܪܢ

Bei dieser Angabe geht man nun von folgender Übersetzung aus:  im Jahre tausend und fünfhundert unseres Herrn. Sprich: die Handschrift ist lediglich 500 Jahre alt. Man kann also davon ausgehen, dass hier keine Actiongeschichte a la Da Vinci Code zu finden ist, sondern dass einfach ein weiteres mittelalterliches Schriftstück gefunden wurde.

Nachwort

Warum nun zum aktuellen Zeitpunkt ein Thema wieder diskutiert wird, welches seit mehreren Jahren eigentlich schon ruht, ist wohl der aktuellen politischen Diskussionslage zum Thema Islam in Deutschland zurückzuführen. Hier wird eine Verunsicherung geschaffen und eine Feindbild aufgestellt, welches so gar nicht gegeben ist.

Autor: Andre, mimikama.org


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