Unfallbericht eines Dachdeckers – Wirklich passiert oder nur eine nette Geschichte?

Nach der Geschichte mit dem tapferen, kleinen Zaun hat sich die Mimikama-Redaktion entschlossen, weiteren vermeintlichen(?) Versicherungsmeldungen auf den Grund zu gehen.

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Der folgende Brief eines Dachdecker (sic) ist an die [Name der Unfallversicherungsanstalt]
gerichtet und beschreibt die Folgen einer unüberlegten Handlung (Originalbericht nicht erfunden!)

Es folgt die Geschichte eines kuriosen Arbeitsunfalls, in der eine, an einem Seil befestigte und mit Ziegeln gefüllt Tonne eine gewichtige Rolle spielt.

Unser Fazit

Nein, bei diesem Text handelt es sich nicht um einen authentischen Bericht eines Arbeitsunfalles. Heute wird diese Erzählung gerne in den sozialen Medien geteilt, hat aber eine lange Vorgeschichte, die bis zu Zeitungsberichten aus dem 19. Jahrhundert zurückgeht.

Das Versicherungswesen in Deutschland ist ein riesiges Geschäft. Alleine der größte Anbieter von Schadens- und Unfallversicherungen, die Allianz, hat im Abrechnungszeitraum 2020 und nur für diesen Bereich über 10 Milliarden Euro umgesetzt. Bei den vielen abgeschlossenen Polizzen und eingehenden Schadensmeldungen sind natürlich auch immer wieder kuriose Fälle und unglaubliche Geschichten dabei.

Durch das Netz und früher schon mithilfe von Faxgeräten wurden immer wieder „echte“ Versicherungsmeldungen geteilt, deren Wahrheitsgehalt zweifelhaft und deren Ursprung schwer festzumachen ist. Einer solchen kuriosen Schadensmeldung, der Geschichte des tapferen, kleinen Zauns sind wir im August bereits nachgegangen. Schadenfreude ist die schönste Freude, sagt man. Da muss schon etwas dran sein, ansonsten hätte der erste Arbeitstag des Staplerfahrers Klaus keinen solchen Kultstatus erlangt. Heute wollen wir uns aber einer anderen Geschichte widmen.

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Der Unfallbericht eines Dachdeckers

Der folgende Brief eines Dachdecker ist an die AUVA (Allgemeine Unfallversicherungs Anstalt) gerichtet und beschreibt die Folgen einer unüberlegten Handlung (Originalbericht – nicht erfunden!):

In Beantwortung Ihrer Bitte um zusätzliche Informationen möchte ich Ihnen folgendes mitteilen: Bei Frage drei des Unfallberichtes habe ich „ungeplantes Handeln“ als Ursache angegeben. Sie baten mich, dies genauer zu beschreiben, was ich hiermit tun möchte.

Ich bin von Beruf Dachdecker. Am Tag des Unfalles arbeitete ich allein auf dem Dach eines sechsstöckigen Neubaus. Als ich mit meiner Arbeit fertig war, hatte ich etwa 250 kg Ziegel übrig. Da ich sie nicht die Treppe hinunter tragen wollte, entschied ich mich dafür, sie in einer Tonne an der Außenseite des Gebäudes hinunterzulassen, die an einem Seil befestigt war, das über eine Rolle lief. Ich band also das Seil unten auf der Erde fest, ging auf das Dach und belud die Tonne. Dann ging ich wieder nach unten und band das Seil los. Ich hielt es fest, um die 250 kg Ziegel langsam herunterzulassen.

Wenn Sie in Frage 11 des Unfallbericht – Formulare nachlesen, werden Sie feststellen, dass mein damaliges Körpergewicht etwa 75 kg betrug. Da ich sehr überrascht war, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und aufwärts gezogen wurde, verlor ich meine Geistesgegenwart und vergaß, das Seil loszulassen. Ich glaube, ich muss hier nicht sagen, dass ich mit immer größerer Geschwindigkeit am Gebäude hinaufgezogen wurde. Etwa im Bereich des dritten Stockes traf ich die Tonne, die von oben kam. Dies erklärt den Schädelbruch und das gebrochene Schlüsselbein.

Nur geringfügig abgebremst, setzte ich meinen Aufstieg fort und hielt nicht an, bevor die Finger meiner Hand mit den vorderen Fingergliedern in die Rolle gequetscht waren. Glücklicherweise behielt ich meine Geistesgegenwart und hielt mich trotz des Schmerzes mit aller Kraft am Seil fest. Jedoch schlug die Tonne etwa zur gleichen Zeit unten auf dem Boden auf und der Tonnenboden sprang aus der Tonne heraus. Ohne das Gewicht der Ziegel wog die Tonne nun etwa 25 kg. Ich beziehe mich an dieser Stelle wieder auf mein in Frage 11 angegebenes Körpergewicht von 75 kg.

Wie Sie sich vorstellen können, begann ich nun einen schnellen Abstieg. In der Höhe des dritten Stockes traf ich wieder auf die von unten kommende Tonne. Daraus ergaben sich die beiden gebrochenen Knöchel und die Abschürfungen an meinen Beinen und meinem Unterleib. Der Zusammenstoß mit der Tonne verzögerte meinen Fall, so dass meine Verletzungen beim Aufprall auf dem Ziegelhaufen gering ausfielen und so brach ich mir nur drei Wirbel.

Ich bedaure es jedoch, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich, als ich da auf dem Ziegelhaufen lag und die leere Tonne sechs Stockwerke über mir sah, nochmals meine Geistesgegenwart verlor. Ich ließ das Seil los, womit die Tonne diesmal ungebremst herunterkam, mir drei Zähne ausschlug und das Nasenbein brach.

Ich bedaure den Zwischenfall sehr und hoffe, Ihnen mit meinen präzisen Angaben dienen zu können. Für genaue Auskünfte bitte ich Sie, mich anzurufen, da es mir manchmal schwer fällt, mich schriftlich auszudrücken.

Text von der Website eines Unternehmens für Arbeitssicherheit (sic!)

Die Spurensuche beginnt

Dieser Text ist mit leichten Abwandlungen in vielerlei Form immer wieder in verschiedenen Internetforen aufgetaucht. Davor hat er bereits das Schwarze Brett in vielen Firmen geschmückt und seine Runden per E-Mail oder Fax gemacht. Eine filmische Umsetzung eines solchen Briefes an die Schweizer SUVA findet sich in der Mediathek der Arbeitschutzfilm.de. Der kurze Clip ist dort und auch auf YouTube nachbearbeitet und um die Credits gekürzt.

In den Kommentaren unter dem Clip wird über den Ursprung von Film und Unfallbericht spekuliert, sowie über die getreue Umsetzung des Textes diskutiert:

Es handelt sich bei der literarischen Grundlage um eine französiche Humoreske, die Mitte der 60 Jahre in der Le Humanite erschien und in der Ostberliner BZA 1969 abgedruckt wurde. Solche Geschichten liefen schon damals um den Erdball.

basierend auf dem Text der Flaschenzug

Der Flaschenzug ist kein Flaschenzug…. aber der Mastwurf sieht gut aus.

Klingt ganz stark nach : The Dubliners – The sick Note

Moin, orginal kommt der aus Norwegen und ist 1996 gedreht worden!!! Es ist nicht alles Ricola und das haben die Schweizer nicht gedreht. Das Orginal ist von Guttorm Petterson

Norwegen, 1996? Fast. Der von Filmhuset für die Unfallkasse Norwegen produzierte Kurzfilm „Skademeldingen“ wurde 1993 in Oslo gedreht. Regie führte Guttorm Petterson, der sich in den folgenden zwei Jahrzehnten mit größeren Produktionen einen internationalen Ruf erarbeitet hat. Hier das Original mit Untertiteln:

Norwegen, Frankreich, Irland, Amerika?

Die Geschichte des verunglückten Dachdeckers kennt man also auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes. Es wird Zeit, die Suche auszudehnen:

Es wird vermutet, dass für den Film “Schadensmeldung” eine französiche Humoreske, die Mitte der 60 Jahre in der Le Humanite erschien, als literarischen Grundlage diente. Eine Übersetzung wurde wohl 1969 in der Ostberliner Abendzeitung BZA abgedruckt.

Das Infoportal bedachungen-info.de über den norwegischen Kurzfilm

Bei einer google-Suche mit englischen Stichwörtern taucht ein Video der The Dubliners ganz oben auf: The Sick Note. Noch vor seiner Zeit bei The Dubliners trat der Sänger Seán Cannon alleine mit diesem Lied in Pubs auf. Das Lied stammt allerdings nicht von ihm, sondern vom Folksänger Pat Cooksey. Dieser sagt über die Entstehungsgeschichte folgendes:

Über viele Jahre hinweg gab es viele Spekulationen über dieses Lied. Ich habe dieses Lied unter seinem ursprünglichen Titel Paddy and the Barrell 1969 geschrieben und es zu dieser Zeit zum ersten Mal in The Dyers Arms in Coventry aufgeführt, und 1972 begann Sean Cannon, der später Mitglied der Dubliners wurde, es in den Folkclubs unter dem Titel The Sick Note zu spielen.

Das Lied basiert auf Gerard Hoffnung’s wunderbarer Ansprache an die Oxford Union, aber die Geschichte in einer einfacheren Form stammt aus den englischen Music Halls der 1920er Jahre und erschien 1937 im Readers Digest.

The Sick Note auf irish-folk-songs.com
Seán Cannon erklärt, warum Paddy heute nicht zur Arbeit kommen kann

Oxford, England anno 1958

Ein Video wäre bei so einer halböffentlichen Veranstaltung im Jahre 1958 wohl etwas viel verlangt, aber zum Glück gibt es zu Gerard Hoffnungs Ansprache eine Audioaufzeichnung. In einem der ältesten Debattierclubs der Welt, jenem der Studentenverbindung The Oxford Union Society trug der Musiker und Komiker am 4. Dezember 1958 sein Klagelied eines Maurers (engl. The Bricklayer’s Lament) vor. Die Geschichte beginnt so:

I’ve got this thing here that I must read to you.
Now, this is a very tragic thing… I shouldn’t, really, read it out.
A striking lesson in keeping the upper lip stiff is given in a recent number of the weekly bulletin of ‚The Federation of Civil Engineering Contractors‘ that prints the following letter from a bricklayer in Golders Green to the firm for whom he works.

Respected sir,

when I got to the top of the building, I found that the hurricane had knocked down some bricks off the top…

The Bricklayer’s Story auf monologues.co.uk


Das erwähnte „Federation of Civil Engineering Contractors Weekly Bulletin“ gab es übriges wirklich, es wurde von 1952 bis 1990 in London produziert. Wäre das unsere einzige Spur gewesen, hätten wir wohl noch tiefer in den britischen Nationalarchiven gegraben, aber auch auf der anderen Seite des großen Teiches erzählt man sich eine urbane Legende über ein Fass mit Ziegeln.

Barrel of Bricks: Mythos, Sketch

Wer nach kuriosen Geschichten, urbanen Legenden oder hartnäckigen Gerüchten sucht, die sich technisch nachprüfen lassen, landet unweigerlich bei Videos von Adam Savage und Jamie Hyneman. Die MythBusters haben einer Variante der Geschichte auf den Zahn gefühlt, die man auch in den Vereinigten Staaten kennt: Barrel of Bricks Myth:

Der Mythos: Ein Maurer, der ein mit Ziegeln gefülltes Holzfass mit einem Flaschenzug von der Spitze eines dreistöckigen Gebäudes hebt, könnte wiederholt verletzt werden.
Urteil: Plausibel

Zusammenfassung des Experiments auf der Fandom-Seite der Serie

Das Experiment wurde in Staffel 1, Folge 3 mit dem Crashtest-Dummie „Buster“ durchgeführt. Mithilfe kleiner Tricksereien war es möglich, den geschilderten Unfall zu rekonstruieren. Auch die Verletzungen schienen Adam und Jamie plausibel.

In den USA scheint diese urbane Legende über die Jahrzehnte hinweg beliebt zu sein. Die Faktenchecker-Seite Snopes zitiert eine Version aus dem Netz von 1997 sowie einen Sketch von Saturday Night Live von 2004: In einer Debatte im Präsidentschaftswahl trägt Senator John Kerry die Geschichte eines Bauarbeiters vors, der sich bei der Arbeit wiederholt verletzte, als er versuchte, ein Fass mit Ziegeln hochzuheben. Damit sollte auf mangelnden Schutz durch Krankenversicherung hingewiesen werden. Die Geschichte findet sich in der Autobiografie eines US-Admirals von 1952 und auch schon in einem Roman von 1902: At Home with the Jardines von Lilian Bell:

Ich werde nun etwas erzählen, was mir die wilden Pferde nicht entlocken konnten, nur für dich:

Zunächst einmal hat man dir gesagt, dass wir ein Haus bauen, und du weißt, wie sehr ich mich für alle Einzelheiten interessiere. Zum Beispiel war im dritten Stock ein Haufen Ziegelsteine liegen geblieben, der ganz offensichtlich zum Keller gehörte. Ich musste auf Leitern hinaufsteigen, da das Loch für die Treppe offen gelassen worden war. Da der Seilzug zum Heben und Senken von Materialien noch da war und ein leeres Fass einladend in der Nähe stand, beschloss ich, der Natur zu helfen, indem ich die Ziegelsteine an ihren endgültigen Platz hinunterließ. Ich füllte also das Fass mit ihnen und hängte es an den Seilzug…

Im Kapitel Ein Brief von Jimmie nimmt die Geschichte ihren verhängnisvollen Verlauf

Noch weiter zurück in der Zeit

Snopes fand heraus, dass sich nicht die Autorin Lilian Bell diese Geschichte ausgedacht hatte, sondern einer Lokalzeitung aus dem Jahr 1895 entnommen hatte:

Die Gesetze der Schwerkraft

Das Gesetz der Anziehungskraft der Schwerkraft wurde neulich in der Cedar Street gut veranschaulicht. Ein Mann hielt ein Seil in der Hand, das über einen Flaschenzug in ein Fenster im zweiten Stock führte, wo es an einem Fass mit einer etwa 600 Pfund schweren Eisenkette befestigt war. Das Fass befand sich auf der Fensterbank, und durch ein Missgeschick ließ der Mann im Gebäude das Fass los, ohne den Mann am Boden zu informieren. Das Ergebnis, eine Veranschaulichung des Gesetzes der Schwerkraft, war, dass das Fass nach unten und der Mann nach oben fiel, da er sich am Seil festhielt.

Um die Sache noch komplizierter zu machen, schlug das Fass so hart auf dem Boden auf, dass der Boden herausfiel und der Inhalt natürlich mitgerissen wurde. Und wieder zeigte sich die Schwerkraft, denn dadurch war das Fass leichter als der Mann, und er fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, während das Fass nach oben flog.

Dann machte er den Fehler seines Lebens, indem er das Seil losließ, um seine blauen Flecken zu spüren, denn das Fass, das schwerer war als das lose Ende des Seils, fiel schnell nach unten und traf ihn genau in dem Moment, als er sich aufrappelte, was wiederum die Anziehungskraft der Schwerkraft bestätigte.

Doch die Zuschauer erkannten den Ernst der Lage nicht.

Cedar Rapids Evening Gazette, 11. Jänner 1895

Doch da endet die Geschichte noch immer nicht. Die Cedar Rapids Evening Gazette aus Iowa hatte auch nur einen älteren Artikel abgeschrieben, der bereits im Jahr davor veröffentlicht worden war: in der Sonntag-Morgenausgabe des Saint Paul Daily Globe, am 21. Oktober 1894.

Fazit

Der „Unfallbericht eines Dachdeckers“ ist eine Erzählung, die bereits 127 Jahre alt ist. Man kennt die Geschichte mit dem Fass am Seil und dem Bauarbeiter in vielen Ländern und erzählt sie sich in verschiedensten Varianten. Wer weiß, vielleicht taucht irgendwann eine ägyptische Grabinschrift auf, die von einem unglücklichen Arbeitsunfall mit einem Fass beim Pyramidenbau berichtet.


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