Morbus Gaucher wird nicht durch Chitin verursacht

In den letzten Wochen haben wir einiges zum Thema Insekten in der Nahrung veröffentlicht. Aktuell ist die Aufregung in den sozialen Medien groß.

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Chitin aus Insekten soll für den menschlichen Körper schädlich sein und die Erbkrankheiten Morbus Gaucher und Sarkoidose auslösen. Erhöhte Chitinase-Werte würden das beweisen.

Unser Fazit

Der Verzehr von chitinhaltigen Insekten, die als EU-Lebensmittel zugelassen sind, ist sicher und verursacht keine Krankheiten. Chitin kann vom Menschen kaum verdaut werden und wird als Ballaststoff ausgeschieden. Obwohl das Enzym, das zum Abbau chitinhaltiger Krankheitserreger verwendet wird, bei bestimmten Krankheiten erhöht ist, besteht kein Zusammenhang zum Verzehr von Insekten.

Der Grund: Die EU-Kommission hat ein weiteres neuartiges Lebensmittel für den menschlichen Verzehr freigegeben, nämlich teilweise entfettetes Pulver aus gemahlenen Hausgrillen. Und wie so oft bei neuen und unbekannten Dingen werden Lügen und Halbwahrheiten verbreitet, um Menschen zu verunsichern.

Aktuell wird die Angst vor (Erb)Krankheiten geschürt: Der Verzehr von chitinhaltigen Insekten soll Morbus Gaucher und Sarkoidose auslösen. Die Postings auf Telegram, Twitter oder Facebook sehen z.B. so aus:

Experten geben allerdings Entwarnung: Chitin ist für den Menschen kaum verdaulich und wird als Ballaststoff wieder ausgeschieden. Das im menschlichen Körper vorhandene Enzym Chitinase, das Chitin aufspalten kann, dient der Abwehr von Erregern. Ein hoher Chitinase-Wert ist nicht die Ursache für Krankheiten, sondern ein Indikator. Menschen, die auf Schalen- und Weichtiere allergisch reagieren, sollten aber dennoch vorsichtig sein.

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Chitin, ein Vielkönner

Chitin ist ein sogenanntes Polysaccharid, ein komplexes Kohlenhydrat, das aus mehreren Zuckerbausteinen zusammengesetzt ist. Es kommt häufig in der Natur vor und stellt eine wichtige Komponente vieler Schalen, Panzer und Häute von Insekten, Krebstieren und Pilzen dar. Die Natur hat so viele Anwendungen dafür gefunden, dass es sich eines der häufigsten organischen Materialien auf der Erde handelt. Chitin ist ein wichtiger Teil des Skeletts vieler Meeresbewohner, einschließlich Krabben und Shrimps, und bietet Schutz und Struktur für diese Organismen.

Chitin ist aber auch ein wichtiger Bestandteil des Exoskeletts von Insekten. Dort schützt es nicht nur die Insektenkörper, sondern verleiht diesen ihre charakteristischen Formen und hilft auch bei der Regulierung des Wasseraustauschs. Chitin ist sehr widerstandsfähig und hält auch hohen Belastungen stand. Es ist sehr wichtig für die Beweglichkeit und die Fähigkeit von Insekten, ihre Form zu ändern und sich an ihre Umgebung anzupassen.

Das typische Exoskelett von Insekten besteht aus Schichten von Chitin, die übereinanderliegen und miteinander verbunden sind, um einen starken Schutzpanzer zu bilden. Auch Flügel und Beine verdanken ihre Stabilität und Festigkeit in erster Linie den besonderen Eigenschaften dieses bemerkenswerten Naturbaustoffes. In der biomedizinischen Forschung wird auch deshalb inzwischen vermehrt über die Verwendung von Chitin nachgedacht. Die Stabilität macht es interessant für Implantate und die Biokompatibilität als Basis für die Matrix von Zellkulturen oder auch Wundauflagen.

Heuschrecke
Heuschrecke. Bild: Richard Malo

Chitin in Lebensmitteln

Schon lange bevor über eine Verwendung von Insekten nachgedacht wurde, fand Chitin bereits Anwendung in der Lebensmittelindustrie. Dieses stammt üblicherweise aus Schalentieren wie Krabben, Garnelen und Krebstieren. Dabei wird es aus den Schalen dieser Tiere extrahiert und zu einem feinen Pulver verarbeitet, das als Lebensmittelzusatzstoff verwendet werden kann. Auch Pilze können als Quelle dienen. Der Anspruch an die Qualität ist für Lebensmittel sehr hoch. Deshalb wird penibel darauf geachtet, dass nur hochwertiges und sorgfältig verarbeitetes Chitin für die Verwendung in Lebensmitteln herangezogen wird, das frei von Verunreinigungen ist.

Als Zusatzstoff in der Lebensmittelproduktion dient Chitin als Stabilisator und Verdickungsmittel. Es soll die Konsistenz verbessern und verhindern, dass Lebensmittel beim Kochen oder Verarbeiten zerfallen. Zu Chitosan weiterverarbeitet, wird es auch als „Fettblocker“ angepriesen. Nahrungs­ergänzungs­mittel mit Chitosan sollen „freies Fett binden, beim Abnehmen helfen oder den Cholesterinspiegel senken“. In höherer Dosierung wird daraus ein Medizinprodukt, dann fällt es aber nicht mehr unter das Lebensmittelrecht.

Was ist Morbus Gaucher?

Morbus Gaucher (ausgesprochen: goschee) ist eine seltene, genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung, bei der ein bestimmter Enzymmangel zu einer Anhäufung bestimmter Substanzen (Gaucher-Zellen) in verschiedenen Körpergeweben führt, was zu einer Vielzahl von Symptomen und Komplikationen führen kann. Typische Symptome umfassen Anämie, Gelenkschmerzen und -steifheit, Vergrößerung der Leber und Milz, sowie geringere Knochendichte. Es gibt verschiedene Formen des Morbus Gaucher, von denen einige behandelbar sind.

Diese Erbkrankheit wird zu den Rare Diseases (seltene Krankheiten) gerechnet und betrifft maximal eine von 60.000 Personen. In Österreich waren im Jahr 2022 nur etwa 20 Personen betroffen, wie Sanofi Österreich vorrechnet. Leider gibt es keine Heilung für diese Krankheit, aber es gibt Behandlungen, die die Symptome lindern und den Fortschritt der Krankheit verlangsamen können.

Morbus Gaucher unter dem Mikroskop
Morbus Gaucher unter dem Mikroskop. Bild: Nephron, CC BY-SA 3.0

Ursachen für Morbus Gaucher und Boeck

In den geteilten Postings wird von Morbus Gaucher und Sarkoidose als Erbkrankheiten gesprochen, die durch Chitin ausgelöst würden. In dieser Aussage ist nur ein Detail richtig: Morbus Gaucher ist eine Erbkrankheit. Diese gehen allerdings auf mutierte Genen oder Chromosomen zurück und können nicht durch falsche Ernährung ausgelöst werden.

Erbkrankheit bedeutet, dass es eine genetische Ursache gibt. Bei Morbus Gaucher fehlt ein bestimmtes Enzym. Diese Ursache ist angeboren. Es ist vollkommen egal, ob man dann Insekten isst.

Hajo Haase, Professor für Lebensmittelchemie und Toxikologie an der TU Berlin im Interview mit AFP

Ein Gendefekt führt dazu, dass in den Zellbestandteilen, die Lysosomen genannt werden, bestimmte Verdauungsenzyme fehlen. Diese dienen zum Abbau von Nukleinsäuren, Proteinen und Fetten. Wegen des fehlenden Enzyms sammelt sich ein nicht vollständig gespaltenes Stoffwechselprodukt im Körper an und verursacht zunehmend Probleme.

Über die Hintergründe von Sarkoidose – auch als Morbus Boeck bezeichnet – ist weniger bekannt. Es handelt sich dabei um eine „akut oder chronisch verlaufende entzündliche Erkrankung, die sich in fast allen Organen des Körpers abspielen und somit deren Funktion stören kann“. Mikroskopisch kleine, knotenförmige Gewebeveränderungen sind die Ursache, warum sich diese allerdings bilden, ist immer noch unklar. Es wird allerdings vermutet, dass sowohl erbliche Faktoren als auch inhalierte Schadstoffe dabei zusammenspielen.

Vermutlich handelt es sich um eine Fehlregulation des Immunsystems, verursacht durch Erbfaktoren in Verbindung mit gewissen Umwelteinflüssen.

Sarkoidose„,USZ Zürich

Chitin nicht verantwortlich

Es gibt keine Beweise, dass Chitin mit Morbus Gaucher, Sarkoidose oder anderen Krankheiten in Verbindung steht. Es lassen sich aber hohe Chitinase-Werte im Lungengewebe bei schwerem Asthma nachweisen. Chitinasen sind Enzyme, die für den Abbau von Chitin verantwortlich sind und helfen, chitinhaltige Krankheitserreger wie Pilze und Parasiten abzuwehren. Bei bestimmten Krankheiten, wie Morbus Gaucher, Sarkoidose und Asthma, ist bekannt, dass die Chitinase-Werte bei Patienten infolge der Krankheit ansteigen. Ein hoher Chitinase-Wert ist jedoch keine Ursache für diese Krankheiten, sondern eher ein Indikator oder Biomarker.

Theodor Dingermann, Molekularbiologe, und Andreas Vilcinskas, Direktor des Instituts für Insektenbiotechnologie an der Universität Gießen, erklären, dass die Ursache für den Anstieg von Chitinase bei Krankheiten wahrscheinlich auf einer fehlgeleiteten Reaktion der Immunzellen zurückzuführen ist. Es gibt jedoch keine Beweise dafür, dass ein erhöhter Chitinase-Wert selbst schädlich ist. Doch der genaue Zusammenhang zwischen Chitinase und bestimmten Krankheiten ist noch unbekannt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Anstieg von Chitinase bei Morbus Gaucher, Sarkoidose und anderen Krankheiten eine Folge und keine Ursache dieser Krankheiten ist. Ein hoher Chitinase-Wert ist nicht schädlich und dient lediglich als diagnostischer Indikator. Es ist so: Chitinasen können zwar Erreger wie Pilze oder Bakterien unschädlich machen, die Chitin enthalten. Aber es fehlt dem Menschen an einem Enzym, das diesen Stoff vollständig abbauen könnte.

Chitin ist ein Ballaststoff und gelangt gar nicht in den Organismus. Es ist nicht bioverfügbar, wie wir sagen, und wird wie Zellulose mit dem Stuhl wieder ausgeschieden.

Theodor Dingermann zu AFP

Fazit: Der Verzehr von chitinhaltigen Insekten, die als EU-Lebensmittel zugelassen sind, ist sicher und verursacht keine Krankheiten. Chitin kann vom Menschen kaum verdaut werden und wird als Ballaststoff ausgeschieden. Obwohl das Enzym, das zum Abbau chitinhaltiger Krankheitserreger verwendet wird, bei bestimmten Krankheiten erhöht ist, besteht kein Zusammenhang zum Verzehr von Insekten.
Wer auf Proteine von Krebs- oder Weichtieren allergisch reagiert, sollte aber auch bei Insekten vorsichtig sein.

Bewertung: FALSCH

Quellen: National Library of Medicine, AFP, USZ Zürich, spektrum.de, Sanofi, verbraucherzentrale.de

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