„Der Russe“ als Feind. Doch ist er das wirklich? Die Frage nach Feindbildern und Solidarität.

Menschen meines Alters der Generation Y kennen den alten Feind vor allem aus alten Filmen. „Der Russe“. Gerne auch stellvertretend für all die anderen Länder, die Teil der UdSSR waren, die Ukraine mit eingeschlossen. „Der Russe“ musste reichen. Noch 1995 musste James Bond, in Ermangelung neuer sinistrer Gegner, nochmal einen Kampf um das Wohl des Planeten gegen einen bösen Russen kämpfen, wenn auch ein Abtrünniger, aber wo ist da für uns der große Unterschied? Das Feindbild hat Jahrzehnte funktioniert, warum sollte man das ändern.

Hinweis:
Dies ist ein Artikel aus der Kategorie „my point of view„, verfasst von Severin Rosenberger. Es handelt sich hierbei um eine Kolumne und ist somit ein Meinungsartikel. Eine Kolumne spiegelt die subjektive Ansicht der jeweiligen Autorin / des jeweiligen Autors wider und soll zur konstruktiven Diskussion anregen.

In den letzten 30 Jahren, aber speziell nach 9/11 wurde das Feindbild kurzerhand gegen bösartige waffenstarrende Araber ersetzt und in der Popkultur transportiert. Man hatte ein neues Feindbild, also begann man sich vorsichtig an die alten Feinde anzunähern.
Auf staatlicher Ebene durch wirtschaftliche und politische Annäherung, aber auch die Bevölkerung der ehemals verfeindeten Blöcke Ost und West näherte sich langsam, fast unbewusst an. Die offenen Grenzen ermöglichten auf einmal Kontakt, man stellte fest, dass die Unterschiede nicht so groß sind, wie man Jahrzehnte lang dachte. Dass die Menschen dort nicht ausschließlich aus grimmig dreinblickenden Soldaten mit Pelzmützen und Kalaschnikovs im Schneegestöber bestehen, war für einige überraschend, aber man gewöhnte sich recht schnell an die Vorstellung, dass die einfache Bevölkerung letztlich das Gleiche will wie die Menschen im Westen. Ruhe, Frieden, ein bisschen Wohlstand und am Wochenende eine gute Party.
Umso erschreckender eigentlich, wie wenig nachhaltig diese Entwicklung war.
Putin und seine Entourage haben einen Krieg begonnen. Aus den alten primitiven Gründen, die vermutlich den Großteil aller Kriege ausgelöst haben. Irgendwas mit verletztem Stolz, irgendetwas mit Geschichte, irgendetwas mit Geld, irgendetwas mit Macht. Gekleidet, wie immer, in salbungsvolle bis lächerliche Worte von Ehre, Gerechtigkeit und Rettung.

Unterschied zwischen Putin und „der Russe“

Es ist richtig, zur Ukraine zu halten und es ist menschlich. Man hält instinktiv immer zum Angegriffenen, zum Schwächeren und richtet seinen Zorn auf den Aggressor. Aber dieser Aggressor ist Putin, nicht „der Russe“. In unserer verwöhnten Arroganz fordern wir nun von der russischen Bevölkerung, „sie sollen jetzt gefälligst demonstrieren und den Diktator absetzen“. Dabei wird gerne der Faktor „Diktator“ vergessen. Putin interessiert sich nicht für seine Beliebtheit, zumindest nicht so, wie es ein Demokrat tun würde. Er ist nicht mehr von Umfragewerten abhängig, nicht von Wahlergebnissen. Der Faktor, der ihn an der Macht hält, ist Furcht und nichts funktioniert besser als die Furcht um sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen. Es ist sehr leicht aus unserer Position Forderungen an die russische Bevölkerung zu richten. Wir müssen keinerlei Repressionen erwarten, wenn wir auf die Straße gehen. (looking at you, Querdenker und Bekämpfer der „Corona-Diktatur“). Die Menschen, die in Russland gegen Putin demonstrieren, haben mehr Mut im kleinen Zeh als wir im ganzen Körper. Diese Menschen erfahren ganz konkrete Konsequenzen. RussInnen, die Menschen in der Ukraine unterstützen wollen, dürfen mittlerweile Haftstrafen von bis zu zehn Jahren wegen Verrat erwarten. Demonstrierende egal welchen Alters werden verdroschen und eingesperrt. Ganz ehrlich? Ich würde in meiner Wohnung bleiben, diesen Mut hätte ich vermutlich nicht.
Russische Menschen per se sind nicht feiger oder mutiger als wir. Es sind Menschen, die leben wollen und auch sie haben das Recht, Angst zu haben vor Krieg und Repressalien.
Das sollten wir nicht vergessen, bevor wir wieder kurz einen kleinen Tweet rausknallen, in dem wir fordern, „dass die mal was machen sollen“. Diktatoren wie Putin kann man nur auf internationaler Ebene in die Knie zwingen. Gute Geschäfte machen, den Diktatoren hofieren und loben, ihn zu Hochzeiten einladen und ein bisschen zu knicksen, seine Motive verstehen zu wollen. Damit haben wir nur uns einen Gefallen getan, nicht der russischen Bevölkerung – und schon gar nicht der Ukrainischen. Putins Machtfülle ist durch uns bestärkt und gefördert worden und zeigt die Verlogenheit unserer westlichen Welt. Wir suchen Feindbilder, aber bitte keine Verantwortung. Feinde zu haben ist gut, weil das legitimiert das eigene Fehlverhalten im Nachhinein.

Ein Blick auf die Solidarität

Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt. Der „böse Russe“ ist zurück und das wird auf alles Russische übertragen. Aber wir wären nicht wir, wenn wir dabei unser Feindbild der letzten 30 Jahre völlig aus den Augen verlieren würden. Wir sind solidarisch mit den Ukrainern, weil sie in Not sind. Aber auch, weil sie so hübsch zu uns passen, so schöne blaue Augen haben und ach so christlich sind. Das heißt nicht, dass der Wille, ukrainischen Flüchtenden zu helfen zu etwas Falschem wird, leidenden Menschen zu helfen ist niemals falsch. Aber während wir helfen, mitfühlen und uns engagieren sollten wir auch kurz in uns gehen und uns damit auseinandersetzen, dass alle Konflikte weltweit Produkte von Feindbildern sind und wir befeuern sie jedes Mal aufs Neue.
Unter anderem dadurch, dass wir jetzt zwischen guten und schlechten Flüchtenden unterscheiden. Ukrainer sind die Guten, weil die Männer verteidigen ja ihr Land, während die Araber fliehen. Die relevanten Unterschiede lassen wir dabei nur allzu gern unter den Tisch fallen. Die Ukraine befindet sich seit wenigen Tagen im offenen Krieg gegen eine russische Invasionsarmee. In Syrien und im Irak tobt seit Jahren ein Bürgerkrieg mit unzähligen regionalen und internationalen Konfliktparteien. In Afghanistan mehr oder weniger dasselbe, nur seit Jahrzehnten. Da gibt es nicht mehr viel zu verteidigen. Die Menschen werden seit Jahrzehnten zerrieben und zermürbt. Und nein, auch nicht alle ukrainischen Männer sind heroische Kämpfer, sie dürfen schlichtweg das Land nicht verlassen. Per Gesetz.
Conclusio aus dem Westen also: Die Russen sollen jetzt mal bitte ihren Putin absetzen und die Menschen im Kriegsgebiet Nahost sollen jetzt mal schnell den jahrzehntelangen Krieg abwürgen, damit wir hier nicht auch noch mit den Konsequenzen unseres Verhaltens konfrontiert werden.
Wir haben in unserem tiefen Rassismus wie immer kein Problem damit, „wertvolles“ von „wertlosem“ Leben zu unterscheiden. Ukrainer willkommen, BIPOCs zeigt man an der EU-Grenze weiter den Mittelfinger. Legitimiert und befeuert durch die großen bürgerlichen Medien und von uns in unseren friedlichen Wohnzimmern sorgfältig kultiviert.
Weit haben wir es gebracht. Unser Humanismus und unsere „Solidarität“ geht immer nur so weit, wie es unsere Feindbilder und unser einbetonierter strukturelle Rassismus zulassen.

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