Die Behauptung

Laut einem Zeitungsausschnitt sagt Olaf Scholz der „Time“, man dürfe die Meinung des Volkes nicht ernst nehmen, und im europäischen Interesse wäre ein Krieg Deutschlands gegen Russland denkbar.

Unser Fazit

Die Behauptungen sind irreführend. Scholz sagte zwar, dass er sich nicht rein nach Meinungsumfragen richtet, sagte aber zu keinem Zeitpunkt, dass Deutschland gegen Russland in den Krieg ziehen würde.

Während im Internet ja quasi jeder etwas schreiben kann, ist es schon etwas Besonderes, wenn ein Text in einer Zeitung steht. Dadurch wirkt doch eine Behauptung oder eine Aussage gleich seriöser, oder? Dass diese Ansicht aber nicht wirklich korrekt ist, zeigt gut ein abfotografierter Zeitungsausschnitt mit einer angeblichen Aussage von Olaf Scholz, was aber tatsächlich ein Leserbrief ist, in dem seine echte Aussage komplett verdreht und frei interpretiert wurde: Nein, der deutsche Bundeskanzler erwägt keinen Krieg Deutschlands gegen Russland.

Die Behauptung

Scholz soll die Aussage laut einem abfotografierten Zeitungsausschnitt in einem Interview mit der „Time“ gemacht haben:

Keine Aussage von Olaf Scholz
Keine Aussage von Olaf Scholz

In dem markierten Absatz steht:

„Dabei äußerte der SPD-Politiker ein sehr sonderbares, geradezu erschütterndes Demokratieverständnis: Das Volk dürfe man sowieso nicht allzu ernst nehmen, so Scholz – und europäische Lösungen gehen für ihn strikt vor, selbst wenn sie Deutschland in einen Krieg mit Russland ziehen.“

Update 09. September 2022

Der abfotografierte Zeitungsausschnitt kursiert erneut auf Facebook:

Der Zeitungsausschnitt wird erneut verbreitet
Der Zeitungsausschnitt wird erneut verbreitet

Die Quelle der Behauptung: Ein Leserbrief

Überraschung: Nicht alles, was in einer Zeitung gedruckt wird, ist auch ein Artikel, denn viele Zeitungen drucken auch Leserbriefe, ohne diese auf Korrektheit der Aussagen zu überprüfen. Und exakt dies ist der Zeitungsausschnitt: Ein Leserbrief, der geschickt so fotografiert wurde, dass dies nicht erkenntlich ist.

Glücklicherweise erschien dieser Leserbrief ab er auch in der Online-Ausgabe der Zeitung, so dass ihr euch selbst davon überzeugen könnt (archiviert HIER).

Der Leserbrief in der Zeitung
Der Leserbrief in der Zeitung (Quelle)

Was Scholz tatsächlich sagte

Das Interview der „Time“ mit Olaf Scholz ist auch online erschienen (HIER, archiviert HIER). Hier nun also die Originalzitate aus dem Artikel:

Bezüglich der Meinung des Volkes:

In his view, he has been entrusted by the German people to lead based on what he believes—and not what polls say—is right for the country. “If you are a good leader,” Scholz says, “you listen to the people, but you never think they really want you to do exactly what they propose.”

Auf Deutsch:

Er ist der Ansicht, dass das deutsche Volk ihn beauftragt hat, eine Regierung zu führen, die sich auf das stützt, was er für das Land für richtig hält – und nicht auf das, was die Umfragen sagen. „Wenn man eine gute Führungspersönlichkeit ist„, sagt Scholz, „dann hört man auf die Menschen, aber man glaubt nie, dass sie wirklich wollen, dass man genau das tut, was sie vorschlagen.

Scholz sagt also, dass er zwar hört, wie das Volk zu bestimmten Themen steht, sich aber nicht strikt danach richtet. Insofern ist die Aussage in dem Leserbrief halbwahr, das „Das Volk dürfe man sowieso nicht allzu ernst nehmen“ eine zynische, aber nicht gänzlich falsche Interpretation.

Bezüglich europäischer Lösungen:

Scholz’s idea of where the nation should go is, of course, shaped by where it has been. “Living in Germany, you can’t go away from the disasters of the first half of the 20th century, which were caused by Germany. It is in all the things we do politically, and it is in my mind too because we have a historic responsibility to help secure peace.” For Germany, that means learning to think beyond itself to the broader collective. “We should be the nation that is willing to find the European solutions that are good for all, not just for our country.”

Auf Deutsch:

Scholz‘ Vorstellung davon, wohin die Nation gehen sollte, ist natürlich auch davon geprägt, wo sie gewesen ist. „Wenn man in Deutschland lebt, kann man sich nicht von den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von Deutschland verursacht wurden. Das prägt unser gesamtes politisches Handeln, und das prägt auch mich, denn wir haben eine historische Verantwortung, zur Sicherung des Friedens beizutragen.“ Für Deutschland bedeutet das, dass es lernen muss, über sich selbst hinaus zu denken und sich auf das große Ganze zu konzentrieren. „Wir sollten die Nation sein, die bereit ist, die europäischen Lösungen zu finden, die für alle gut sind, nicht nur für unser Land.

Deutschland soll also im politischen Handeln nicht nur an sich selbst denken, sondern europäisch denken. Scholz hat aber zu keinem Zeitpunkt gesagt oder angedeutet, dass Deutschland deshalb in einen Krieg gegen Russland ziehen würde.

Fazit

Die Behauptungen in dem abfotografierten Leserbrief sind irreführend. Scholz sagte zwar, dass er sich nicht rein nach Meinungsumfragen richtet, was man zynisch als „Scholz nimmt das Volk nicht ernst“ bezeichnen kann, sagte aber zu keinem Zeitpunkt, dass Deutschland gegen Russland in den Krieg ziehen würde.

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