Abfallende Netzfrequenz: Europa knapp am Blackout vorbei?

Sind Sie gut vorbereitet? Haben Sie einen Teelichtofen zu Hause? Der nächste Blackout könnte an der einbrechenden Netzfrequenz liegen!

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Europäische Netzfrequenz stark abgesackt. Europa schrammte am 12. Dezember knapp an einem Blackout vorbei.

Unser Fazit

Nein, die Netzfrequenz bewegte sich innerhalb ganz normaler Parameter. Bei 49,9 Hz müssen wir uns noch lange keine Sorgen machen, die Regelmechanismen funktionieren.

Elektrizität ist wie Blut, das den Körper unserer Zivilisation mit Energie versorgt. Wie die Adern im menschlichen Körper ist das Stromnetz weit verzweigt. Die großen Überlandleitungen sind die Schlagadern, die Leitungen in den Haushalten die Kapillaren, in denen der Strom verbraucht wird. Doch das Stromnetz schlägt mit vielen Herzen, an vielen verschiedenen Orten. So unterschiedlich diese Herzen sind – riesige Wasserkraftwerke am Rhein, Klein-PV-Anlagen am heimischen Dach –, sie schlagen alle im gleichen Takt. Der Puls: 50 Schläge pro Sekunde, 50 Hertz, die Netzfrequenz. Zumindest hier in Europa.

++ Erste Alarmsituation war da: Europäische Netzfrequenz drastisch abgesackt ++ Das europäische Verbundnetz ist am 12.12. nur knapp an Stromabschaltungen vorbeigeschrammt ++ Ungewöhnlicher Frequenzeinbruch im europäischen Verbundnetz ++ Europa knapp am Blackout vorbei ++ Oh oh, im Moment große Probleme im Netz! ++

Alarmismus im Netz: Soll hier Paranoia geschürt werden?

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Netzfrequenz: 50 Hertz ± Schwankungen

Unser Stromnetz arbeitet mit einer Frequenz von 50 Hertz, weil sich die Turbinen, die den Strom erzeugen, 50-mal pro Sekunde drehen. Zumindest in der Theorie. Wird mehr Strom benötigt, als gerade erzeugt wird, sinkt die Frequenz ab. Wird weniger nachgefragt, steigt sie an. An der europäischen Strombörse wird elektrische Energie in 15 Minuten Happen gehandelt. Das ist allerdings viel zu grob, um auf die ständigen Schwankungen in Angebot und Nachfrage reagieren zu können. Daher gibt es weitere automatische Regelmechanismen, die dafür sorgen, dass die Frequenz innerhalb eines engen Spektrums bleibt.

Die Abweichungen von dem Sollwert 50 Hertz dürfen niemals zu groß werden, da sonst empfindliche elektrische Geräte beschädigt werden können.

Benjamin Schäfer (aktuell Karlsruher Institut für Technologie) zum PV Magazin

Mit „empfindlichen elektrischen Geräten“ sind allerdings nicht die üblichen Haushaltsgeräte gemeint, die sind meistens sehr unempfindlich gegenüber Frequenzschwankungen. Viele Netzteile, wie die von Laptops, können problemlos mit 50 bis 60 Hertz (die Frequenz im US-amerikanischen Stromnetz) umgehen. „Problematisch sind vor allem Kraftwerke und Umrichter, die für einen kleinen Frequenz-Bereich optimiert sind“, erklärt Benjamin Schäfer.

Warum ausgerechnet 50 Hertz?

Der Vorarlberger Landesenergieversorger illwerke vkw erklärt die Sache mit den 50 Hz im Detail

Turbinen erzeugen Wechselstrom. Ein rotierender Magnet erzeugt ein oszillierendes Magnetfeld, das Ladungsteilchen in einer umgebenden Spule abwechselnd anzieht und abstößt. Je höher diese Wechselstrom-Frequenz ist, desto schneller müssen sich Turbinen drehen. Das sorgt für höhere Belastungen und höheren Verschleiß. Langsame Frequenzen hatten hingegen bei den früher verwendeten Glühbirnen einen sichtbaren Nachteil: Das Licht flackert. Die 50 Hertz sind der Kompromiss aus Anfangszeit der Elektrifizierung, der sich in Europa durchgesetzt hat. In anderen Weltgegenden, besonders am amerikanischen Doppelkontinent und Teilen von Asien, hat sich eine Netzfrequenz von 60 Hertz durchgesetzt.

World Map of Mains Voltages and Frequencies, Detailed

Schwankungen in der Netzfrequenz und Gegenmaßnahmen

Zu große Schwankungen in der Frequenz beschädigen Kraftwerke und Umrichter, haben wir gehört. Diese sind auch der eigentliche Grund für sogenannte Blackouts, großflächige Ausfälle des Stromnetzbetriebs, die weitere Ausfälle in der öffentlichen Infrastruktur nach sich ziehen. Wenn z.B. große Kraftwerke wegen eines Störfalls unvorhergesehen vom Netz gehen oder wichtige Leitungen durch Naturkatastrophen ausfallen, kann das zu Unter- aber auch Überversorgung in einzelnen Teilen des Stromnetzes führen, die sich in entsprechenden relativ großen Frequenzänderungen ausdrücken.

Was ist relativ groß? Das ist immer eine Frage des Maßstabes und der verwendeten Skalen. Hier mal drei Beispiele für im Internet verfügbare Echtzeitinformationen der Netzfrequenz:

Wenn wir diese Skalen vor Augen haben und dann Aussagen lesen wie…

„Die Frequenz sank innerhalb kurzer Zeit auf 49,9 Hz“, „Die Netzfrequenz pendelt normalerweise stabil zwischen 49,98 Hertz und 50,02 Hertz“ (beides blackout-news.de), „Obwohl jedes verfügbare Kohle- und Gaskraftwerk am Netz war sackte die Frequenz diese Nacht auf 49,900 Hertz ab – ein ungewöhnlich starker Frequenzabfall“ (pleiteticker.de), „Sackt die Netzfrequenz unter 49,8 Hz, kann es deshalb auch zu ersten Stromabschaltungen kommen“ (FB-Gruppe Friedrich Merz – Parteivorsitzender der CDU Deutschland)

…dann schrillen erst einmal die Alarmglocken. Aber sind die 49,9 Hertz wirklich so ungewöhnlich? Nein, sind sie nicht. Sehen wir uns das mal im Detail an.

Exakt 50 Hz wäre das angestrebte Ideal. Bei Werten zwischen 49,99 und 50,01 Hertz passiert zuerst mal nichts. Dieser Totbereich erlaubt Messfehler von bis zu 10 Millihertz. Überschreitet die Netzfrequenz dieses schmale Spektrum, wird sogenannte „Regelenergie“ eingesetzt. Ist die Frequenz zu niedrig, werden im Netz verteilte Stromspeicher entleert, ist sie zu hoch, werden sie gefüllt. Das passiert automatisch und in einem definierten Ausmaß zur Abweichung.

Von ±10 mHz bis 200 mHz wird die eingesetzte Regelleistung (RL) proportional von 0 % bis 100 % aktiviert. Längerfristig sind maximal Abweichungen von ±180 mHz erlaubt, kurzzeitig darf es Abweichungen von ±200 mHz geben. Der erlaubte Frequenzbereich im normalen Betrieb ergibt sich somit zu 49,8 Hz bis 50,2 Hz.

Dr.-Ing. Thomas Gobmaier auf netzfrequenzmessung.de

Der „normale Betrieb“ liegt also im Bereich von 49,8 bis 50,2 Hertz. Erst bei Abweichungen, die größer sind, wird weitere Kraftwerksleistung zu- oder abgeschaltet. 49,9 Hertz ist einerseits als Ausschlag ganz normal und passiert andererseits gar nicht so häufig, wie dieses Histogramm zeigt:

MIMIKAMA
Dichtefunktion der Netzfrequenz im UCTE Stromnetz, 24 Stunden (15./16.12.2022)

Noch deutlicher wird der Regelbereich von 49,8 bis 50,2 Hertz in der folgenden Darstellung von Echtzeitdaten. „Im Gegensatz zu den anderen Netzfrequenzanzeigen auf diesen Seiten, die lediglich einen Bereich von +/-80mHz abdecken, wird hier der komplett mögliche Frequenzbereich angezeigt. Damit soll verdeutlicht werden, wie viel ‚Luft‘ eigentlich immer noch ist und die Abweichungen sehen gleich viel weniger dramatisch aus“, schreibt Dipl.-Ing. (FH) Markus Jaschinsky auf seiner Seite netzfrequenz.info.

MIMIKAMA
Screenshot von netzfrequenz.info

Oberhalb 50,2 Hz werden Kraftwerke vom Netz genommen, bei denen das schnell geht (z.B. PV-Anlagen), im Bereich 49,0 bis 49,8 Hertz werden analog weitere zugeschaltet. Erst wenn die Frequenz unter 49 Hz fallen sollte, werden „Lastabwürfe“ also Stromabschaltungen notwendig. Kritisch wird es für das Netz bei 47,5 Hertz. Wenn die ersten Kraftwerke beginnen, sich abzuschalten oder vom Netz zu gehen, um Schaden von der Technik abzuwenden, fällt die Frequenz weiter und es kommt zu einem Dominoeffekt – einem großflächigen Blackout, den es unbedingt zu vermeiden gilt.

Fallbeispiel: 8. Jänner 2021

Wenn Störungen im Netz auftreten, wird versucht, die Ursache ausfindig zu machen und zu isolieren. Hans Urban hat so einen größeren Störfall des europäischen Verbundnetzes unter die Lupe genommen und beschreibt im PV-Magazin, wie genau gegengesteuert wurde.

Am 8.1.2021 um etwa 13:05 ist die Netzfrequenz im gesamten UTCE-Netz schnell stark eingebrochen. Wegen Ausfällen von Kraftwerken und Übertragungsleitungen in Rumänien entstand eine Unterdeckung mit Strom von etwa 3,6 Gigawatt. Innerhalb von wenigen Sekunden fiel die Netzfrequenz von ungefähr 50,03 auf 49,74 Hertz. Mit der Überschreitung der 200 mHz-Grenze wurde das Kriterium für die „unverzögerte Aktivierung von Leistungsreserven“ schlagartig erreicht, von weiteren Schritten zum „automatischen Lastabwurf“ (stufenweise Stromabschaltungen von jeweils 12,5 % des Netzes) bei 49 Hz war man aber weit entfernt.

Um eine Ausbreitung des Fehlers und speziell Auswirkungen auf das gesamte europäische UCTE-Netz zu vermeiden, wurde für eine bestimmte Zeit das gesamte südosteuropäische Netz abgetrennt und nach Behebung der Fehler etwa eine Stunde später wieder mit dem restlichen Netz verbunden (re-synchronisiert). Der Normalzustand konnte somit ohne weitere Auswirkungen auf das restliche europäische Netz sehr schnell wieder erreicht werden. Den einzigen Hinweis auf die Vorfälle bildet somit der überall gleichzeitig gemessene Frequenzeinbruch.

Netzfrequenz in Europa sinkt auf 49,75 Hertz – Folge ist Systemaufspaltung

FAZIT

Schwankungen in der Frequenz des Stromnetzes können ein Problem sein. Sie entstehen, wenn mehr oder weniger Strom eingespeist wird, als verbraucht wird. In Europa gibt es ein großes Verbundnetz (wie auch in vielen anderen Weltregionen), das bedeutet, dass auf Gleichgewicht im Gesamtnetz wie auch in Teilbereichen geachtet werden muss. Es gibt allerdings einige Regelmechanismen und einen Stufenplan, wie damit umgegangen wird, der im VDE FNN genau geregelt ist.

Zunächst wird auf Entkopplung von Teilnetzen oder bestimmten Kraftwerken gesetzt, bevor man über Abschaltungen nachdenken muss. In der Vergangenheit gab einige größere Störfälle, aber die Weise, wie darauf reagiert wurde, zeigt eher, dass man eigentlich sehr gut vorbereitet ist. Die Schwankungen, die auf Social Media in alarmierender Weise besprochen werden, sind also harmlos. Bis 49,9 Hz liegt man im alltäglichen Schwankungsbereich, bis 49,8 Hz kann mit „Regelenergie“ kompensiert werden. „Lastabwürfe“ beginnen erst ab 49 Hz, ein (geregelter) Blackout findet ab 47,5 Hz statt.

Noch nicht genug vom Thema Netzfrequenz und Blackouts? Tom Wannenmacher von Mimikama beleuchtet die Wahrscheinlichkeit eines Blackouts. Hans Urban erklärt im PV Magazin die Funktion von Stromspeichern im Störfall. Sein Kollege Daniel Seeger die Rolle, die der Stromhandel in der Belastung der Netze spielt. Und warum manchmal Uhren nachgehen, kann auch mit der Netzfrequenz zusammenhängen.

Wer sich für Echtzeitwerte der Netzfrequenz interessiert, wird übrigens hier fündig: Kurven der letzten Stunde, Kurven der letzten 3 Tage. Und (angehenden) Paranoikern möchte ich folgendes ans – mit 50 Hz schlagende – Herz legen: Echtzeitwarnung bei Unterschreitung von 49,8Hz via Telegram Kanal.


Quellen: PV Magazin, VDE, UCTE, illwerke vkw auf, netzfrequenzmessung.de, netzfrequenz.info, gridradar.net, frequenzmessung.de (offline)

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