Immunschuld: Kinder krank durch Maskenzwang? Nein!

Kann denn nicht ein einziges Mal jemand an die Kinder denken?!

Autor: Walter Feichtinger

Die Behauptung

Eine Immunschuld hat die aktuelle Infektionswelle verursacht. Wir sind so anfällig, weil wir wegen der Masken seit Coronabeginn kaum mit Viren in Kontakt gekommen sind. Kinder holen die ausgebliebenen RSV-Infektionen nach.

Unser Fazit

Es gibt keine Immunschuld und es muss auch nichts nachgeholt werden. Infektionen mit Schnupfen, Grippe und RSV schützen nicht langfristig, weil diese Viren ständig mutieren oder die Antikörper mit der Zeit nachlassen. RSV ist gefährlicher für Säuglinge, daher es ist gut, wenn sich Kinder erst später das erste Mal anstecken.

Immunschuld
Immunschuld: Kinder krank durch Maskenzwang? Nein!

In den letzten Wochen haben wir die folgenden Argumente des Öfteren gehört: Während der Pandemie trugen wir ständig Masken, deshalb wurde unser Immunsystem nicht ausreichend trainiert. Aktuell holen wir viele der Atemwegsinfektionen nach. Stichwort: „Immunschuld“. Unsere Kinder trifft es besonders hart: Die Kliniken sind überlastet und wichtige Medikamente fehlen. Kinder, sie sich in den Corona-Jahren weniger an RSV angesteckt haben, müssen nun um die wenigen Intensivbetten konkurrieren. Das kann doch nur an den Masken liegen? Nein, das ist zu einfach gedacht.

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Hochsaison der Infektionskrankheiten

Anfang Dezember hatte das deutsche Robert Koch-Institut (RKI) Rekordzahlen gemeldet:

Die Aktivität der akuten Atemwegserkrankungen (ARE-Raten) in der Bevölkerung (GrippeWeb) ist in der 48. KW 2022 im Vergleich zur Vorwoche insgesamt nochmals gestiegen. Die Werte liegen aktuell sogar über dem Niveau der Vorjahre zum Höhepunkt schwerer Grippewellen. Im ambulanten Bereich (Arbeitsgemeinschaft Influenza) ist die Zahl der Arztbesuche wegen ARE in der 48. KW im Vergleich zur Vorwoche bundesweit gestiegen. Die Zahl der Arztbesuche liegt ebenfalls über dem Wertebereich der Vorjahre um diese Zeit und nur wenig unter den Werten in den Spitzenzeiten schwerer Grippewellen.

ARE-Wochenbericht, Kalenderwoche 48 (28.11. bis 4.12.2022)

Die Zahlen blieben noch eine Woche auf diesem Niveau und sind inzwischen (50. KW) wieder leicht gesunken. Etwa 9,0 Millionen Menschen müssen sich aktuell mit akuten Atemwegserkrankungen herumschlagen. Trotz des leichten Rückgangs liegen diese Zahlen weiterhin deutlich höher als im Vergleichszeitraum der Vorjahre und noch immer „über dem Niveau, das zum Höhepunkt der starken Grippewelle 2017/18 beobachtet wurde“. Zu den ARE werden Corona, aber auch weitere Erreger wie Influenza-, Rhino- und RS-Viren gerechnet.

Vor zwei Wochen hatte noch etwa jedes vierte Kind eine neu aufgetretene Atemwegserkrankung, hier sind die Zahlen inzwischen wieder deutlich rückläufig, aber immer noch auf sehr hohem Niveau, vergleichbar mit der Herbstwelle im Vorjahr. Die jüngsten Patienten der Altersgruppe 0 bis 4 Jahre sind besonders stark betroffen. Hauptgrund für die Einweisung ins Krankenhaus sind Influenza und das Respiratorische Synzytial-Virus. Bei den allerjüngsten (bis 1 Jahr) ist zu knapp 60 % RSV die Ursache und da kann es schnell gefährlich werden. Die Kinderklinken arbeiten deshalb weiterhin am Limit.

Besonders die Kleinen leiden oft schwer, bis hin zu Atemnot und Sauerstoffunterversorgung. Sogar Neugeborene mit RSV-Infektion rauschen manchmal regelrecht ab, weil sie nicht genug Luft bekommen und in Kliniken dann mit Sauerstoff versorgt werden müssen. Bei Corona-Infektionen bei Kindern haben wir das nicht gesehen.

Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, zur Neuen Osnabrücker Zeitung

Masken und „Immunschuld“

Während andere eine Rückkehr zur Maskenpflicht andenken, ist Kinderärztepräsident Fischbach dagegen: „Der Schrei nach Masken ist der übliche Reflex der Politik. Dabei ist die Maskenpflicht der zurückliegenden zwei Jahre ja ein wichtiger Grund für die aktuelle Krise“. Auch weitere Covid-Schutzmaßnahmen wie Abstandhalten und das regelmäßige Desinfizieren der Hände hätten dazu beigetragen, dass unser Immunsystem nicht ausreichend trainiert wurde. Andere Experten hatten sich im Vorfeld bereits gegenteilig geäußert.

Woher kommt diese Vorstellung, dass das Immunsystem unvorbereitet sein könnte, wenn es nicht regelmäßig Krankheitserregern ausgesetzt ist? Fischbach beruft sich hier auf ein Positionspapier einer französischen Forschergruppe vom August 2021. Diese verwendeten bereits im Titel den Begriff „immune debt“, der im Deutschen als „Immunschuld“ aufgegriffen wurde. „Nicht-pharmazeutische Interventionen“ (Maßnahmen wie Maskentragen, Abstandhalten) hätten zwar geholfen, das Gesundheitssystem in Frankreich zu entlasten, würden aber zu einer „fehlenden Immunstimulation“ führen. Diese „Immunitätsschuld“ könnte negative Folgen haben, sobald die Pandemie wieder unter Kontrolle ist und die Maßnahmen aufgehoben werden.

„Immunschuld“, ein Wort, das hängen bleibt

Leider sind dieser Begriff und das dahinterstehende Konzept bereitwillig von vielen Medien aufgegriffen worden, ebenso wie der „Nachholeffekt“ – auch wenn viele Experten dem vehement widersprechen. Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie: „Das Immunsystem ist kein Muskel: Es bildet sich nicht zurück, wenn es nicht oder weniger gebraucht wird“. Und auch der Präsident des RKI, Lothar Wieler sprach sich kürzlich dafür aus, dass Corona-Infizierte weiterhin isoliert werden sollten, „Genauso wichtig ist es, dass die Menschen weiterhin Masken tragen, denn auch dadurch bleibt die Zahl der Atemwegserkrankungen im Rahmen“. Andere drücken sich harscher aus:

Hanefeld hatte schon im Oktober vor Überlastungen gewarnt

„Dass wir jetzt wieder mehr Atemwegsinfekte als im Vorjahr bei den Kindern sehen, liegt auch daran, dass wir jetzt wieder mehr Kontakte und weniger Schutzmassnahmen haben. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass Maske tragen kontraproduktiv ist. Die Erfahrungen aus dem vergangenen Winter zeigen vielmehr: Infektionen müssen nicht zum Leben dazugehören“, erklärt Immunologin Prof. Christine Falk der DMZ. „Die Sorge, dass man durch Maske tragen, Abstand halten und Lüften auf lange Sicht irgendwelche Schäden im Immunsystem anrichtet, kann man klar mit Nein beantworten.“

RSV bei Kindern: Daten aus Dänemark

Gegen einen Nachholeffekt sprechen auch aktuelle dänische Krankenhausdaten. Dort werden gerade sehr viele Babys mit schweren RSV-Verläufen eingeliefert. In Dänemark ist die letztjährige RSV-Welle ausgefallen. Viele Kinder hatten also noch nie Kontakt mit diesem Virus, dennoch sind es nicht diese „Nachzügler“, die besonders oft an schweren Verläufen leiden, sondern Kinder in den ersten Lebensmonaten. Das spricht gegen Nachholeffekt als Ursache für die hohen Respiratorischen Synzytial-Virus-Fälle bei Kleinkindern. Diese haben selbstredend auch nie Covid-Masken getragen.

Das Immunsystem muss nicht extra trainiert werden, wir sind immer mit Erregern konfrontiert. Wie wir bereits besonders Sars-Cov-2 gesehen haben – Stichwort: Long Covid – können Viren zu langanhaltenden Gesundheitsproblemen führen. RSV-Infektionen gelten als bedeutender Risikofaktor zur Ausbildung von Asthma bei Kindern, besonders bei Säuglingen.

FAZIT

Es gibt keine „Immunschuld“. Es sind auch nicht die Masken „schuld“ daran, dass die Kinder jetzt krank werden. Viele Antikörper gegen die Viren von akuten Atemwegserkrankungen halten ein Leben lang an (wie bei Influenza), andere nehmen innerhalb von einigen Monaten messbar ab (z.B. bei Covid). Denselben Schnupfen kann man sogar zweimal hintereinander bekommen. „RSV-Reinfektionen sind häufig und kommen in jedem Lebensalter vor“, schreibt das RKI.

Eine Infektion schützt nicht (völlig) mit vor späteren Infektionen: Antikörper nehmen ab oder es macht inzwischen ein neuer Stamm Probleme (wie wir es bei jeder neuen Grippesaison kennen). Deshalb steckt man sich nach längerer Zeit ohne Kontakt zu einem Virus leichter an. Die inzwischen gut bekannten Corona-Schutzmaßnahmen helfen sehr erfolgreich auch gegen andere Infektionskrankheiten.

Aktuell kommen mehrere Faktoren zusammen: es ist Hochsaison für Infektionskrankheiten, die Schutzmaßnahmen wurden zurückgefahren und viele haben sich schon länger nicht mehr infiziert. Dass es für viele ältere Kinder die erste RSV-Infektion ist, ist allerdings gut (sagt Isabella Eckerle), weil die Krankheit für Jüngere gefährlicher ist. Das aktuelle Problem der deutschen Kliniken mit der RSV-Welle ist auch ein Problem des kaputten Gesundheitssystems, wie wir kürzlich besprochen haben.

keine Immunschuld - Hygienetipps

Quellen: RKI, BDI, frontiers, helmholtz.de, Statens Serum Institut auf ArcGIS, PubMed, FAZ, Merkur, NOZ, DMZ, Die Presse, New York Times, Bild auf YouTube, Quarks auf YouTube

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